
Interview mit Andrea Schwalbach: „Wir sollten aufhören, uns gegenseitig in Schubladen zu stecken“
Andrea Schwalbach ist eine renommierte Regisseurin und seit mehr als drei Jahrzehnten im Geschäft. Ob Oper, Operette oder Musical – sie bewegt sich leidenschaftlich im weiten Feld des Musiktheaters. Im Interview erzählt sie, was sie an diesen unterschiedlichen Formen reizt, wie sie mit Rollenerwartungen umgeht, was sie von Schubladendenken hält und welche Bedeutung Musik für ihre Arbeit hat.
Du inszenierst sowohl Opern als auch Musicals. Was reizt dich an diesen beiden Genres, und wo liegen die Unterschiede?
Für mich ist das alles Musiktheater. Ich bezeichne mich nicht als Opern- oder Musicalregisseurin, sondern als Musiktheater-Regisseurin. Ich mache ja auch Operette, neue Musik, Performances – alles, was mit Musik zu tun hat. Als Regisseurin kann ich ohne Musik nicht arbeiten. Selbst wenn ein Stück sehr textlastig ist – es funktioniert für mich nur, wenn es in Musik gebunden ist.
Was bedeutet das für deine Arbeitsweise?
Ich glaube, je enger die Form ist, desto mehr Freiheit habe ich. Je artifizieller etwas ist, desto mehr kann ich mich darin bewegen. Das ist vielleicht schwer zu verstehen, aber genau deswegen liebe ich das Musiktheater. Und natürlich gibt es innerhalb des Musiktheaters Unterschiede. Musical ist für mich – anders als oft behauptet – ein unglaublich komplexes Handwerk.
Du hast selbst getanzt. Ist das ein Grund, warum dir das Musical liegt?
Auf jeden Fall. Ich habe 20 Jahre getanzt, und Choreografie ist für mich ein zentrales Element, das ich auch in der Oper oft einsetze. Deswegen mache ich da persönlich auch keinen großen Unterschied – aber die Theaterwelt schon. An den Theatern tut man sich schwer, mich einzuordnen. Wenn ich ein Musical inszeniert habe, bekomme ich plötzlich nur noch Musicalanfragen. Mache ich Operette, denken alle, ich sei von der Oper abgedriftet. Dieses Schubladendenken ist ein strukturelles Problem.
Gibt es Elemente, die du vom Musical in die Oper überträgst – oder umgekehrt?
Definitiv. Ich arbeite zum Beispiel sehr stark an der Figur und am Text – auch in der Oper. Das kommt vielleicht vom Musical. Umgekehrt nehme ich aus der Oper die formale Strenge mit. Ich finde, auch eine Operette kann mal etwas mehr Show vertragen. Ich sehe das alles als ein großes Ganzes.
Hast du ein festes Team, mit dem du regelmäßig arbeitest?
Ich arbeite gern mit denselben Leuten – ob nun bei der Choreografie, der Ausstattung oder auch bei den Mitwirkenden auf der Bühne. Man kennt sich, vertraut sich und entwickelt sich gemeinsam weiter. Das ist wie meine kleine Reisegruppe. So entstehen für mich die besten Produktionen.

Und wie erlebst du die Gleichstellung in der Branche, besonders als Frau in der Regie?
Das ist ein Thema, das mich schon mein ganzes Berufsleben begleitet. Ich mache das jetzt seit über 35 Jahren. Am Anfang war ich eine von sehr wenigen Frauen in der Opernregie – man konnte sie wirklich an einer Hand abzählen. Damals war man die Perle, die Frau, mit der sich ein Haus schmücken konnte. Aber es war auch klar, dass die Konkurrenz männlich war. Und wenn Frauen kamen, wurden sie oft nicht gehalten.
Hat sich das inzwischen verändert?
Ein wenig, aber nicht genug. Es gibt zwar mehr Regisseurinnen, aber wir sind immer noch unterrepräsentiert – besonders im Musiktheater. Im Schauspiel sieht das besser aus. Ich glaube, wir liegen heute vielleicht bei knapp 30 Prozent Frauenanteil in der Opernregie. Das ist immer noch viel zu wenig.
Hast du Diskriminierung erlebt?
Ja, leider. Es gab Situationen, in denen ich deutlich schlechter bezahlt wurde als männliche Kollegen – für exakt dieselbe Arbeit. Ich habe das auch nur erfahren, weil ich mit dem Kollegen gleichzeitig an einem Haus gearbeitet habe. Und ja, am Anfang meiner Karriere habe ich auch verschwiegen, dass ich Kinder habe – aus Angst, dann nicht mehr gebucht zu werden.
Wie siehst du die aktuelle Musical-Landschaft in Deutschland?
Da könnte man viel mutiger sein. Es gibt großartige Stücke, auch abseits der großen Broadway-Produktionen. Leider setzt man in dem Bereich auf Jukebox-Musicals oder Formate, die weniger Risiko bedeuten. Ich wünsche mir mehr Offenheit, mehr Vielfalt – auch was die Mischung von Genres angeht.
Du wirkst sehr leidenschaftlich, wenn du über deine Arbeit sprichst.
Weil ich es bin! Ob Oper oder Musical – für mich zählt die künstlerische Qualität. Und ich finde, wir sollten aufhören, uns gegenseitig in Schubladen zu stecken. Es ist Zeit, dass wir die Genregrenzen aufbrechen – und die Machtstrukturen gleich mit.
Kommen wir mal zu deinen Inszenierungen. Ich möchte insbesondere über „Salome“ in Wuppertal und „Carmen“ in Münster sprechen, zwei deiner letzten Operninszenierungen. Würdest du sagen, dass starke Frauenfiguren ein besonderer Fokus deiner Arbeit sind?
Ich hab’s ehrlich gesagt noch nie anders gemacht. Ich habe noch nie eine Frau auf der Bühne inszeniert, die genüsslich klein gemacht wird. Das finde ich ganz schwierig. Bei „Singin‘ in the Rain“ in Heidelberg war das auch eine große Herausforderung. Wie schaffe ich es, dass Lina Lamont kein Dummchen ist? Dass Kathy Selden nicht nur über den Mann Karriere macht? Ich habe von Anfang an gesagt: Lina ist nicht dumm, sie ist schlau – sie hat nur diese grausige Stimme. Das sind die Momente, an denen ich lange arbeite. Ich frage mich: Wie kriege ich das hin? Bei „Carmen“ habe ich zum Beispiel gesagt: Ich kann nicht noch einen Femizid auf der Bühne sehen. Das ist auch der Grund, warum ich es mehrfach abgelehnt habe, diese Oper zu inszenieren. Aber irgendwann war ich bereit, weil ich es anders erzählen wollte, ohne die Musik zu zerstören. Das ist schwer – richtig schwer. Ich wusste: Ich brauche eine Figur von außen, die eingreifen kann. Sonst funktioniert die Geschichte nicht.

Hast du deine Titelfigur in „Carmen“ direkt als Rebellin gesehen?
Ja, total. Aber ich muss sagen: Ich habe das Stück siebenmal angeboten bekommen. Siebenmal habe ich Nein gesagt. Beim achten Mal habe ich’s dann gemacht. Ich wollte das Stück eigentlich nie machen. Das ist eines von den Werken, das man als Frau immer angeboten bekommt. So nach dem Motto: „Mach du mal, du bist doch ’ne Frau.“ Dabei hat mich das gar nicht interessiert – zumindest nicht auf die Art. Es ging mir nie darum, „Carmen“ aus weiblicher Perspektive zu zeigen, sondern eher: Was will diese Figur mir heute noch sagen? Mich hat die Erwartungshaltung gestört. Dieses Bild, das man auf sie projiziert – so klischeebeladen. Du kommst ja nicht um die Folklore drumherum. Dieses ganze Stück ist Rhythmus, Tanz. Ich wollte ein anderes Narrativ. Von außen. Jemand, der sagt: „Ich geb‘ euch das, ich liefere – auch wenn ich nicht will.“ Dadurch entsteht ein Druck, gegen den sich Carmen wehren muss. Und das war spannend. Sie am Ende nicht sterben zu lassen und dabei nicht die Musik zu zerstören, war schwer. Ich glaube, es ist uns aber ganz gut gelungen.
Und wie war es bei „Salome“?
Das braucht viel Verführung, viel Tiefe. Ich versuche immer, aus der Musik heraus zu erzählen. Bei „Salome“ habe ich mich auch sofort gefragt, wie man diese Figur aus der Opferzuschreibung herausbekommt. Mich hat an der Rezeptionsgeschichte gestört, dass man immer eine psychologische Erklärung gesucht hat für Salomes Grausamkeit. Frau darf nicht grausam sein. Ich habe mich dann gefragt: Was ist denn, wenn es gar keine Erklärung gibt – wenn sie den Kopf fordert, einfach, weil sie es kann? Und genauso haben wir mit Helena Juntunen an dieser Figur gearbeitet. Da war ganz schnell klar, diese Salome lässt sich am Ende auch nicht einfach so umbringen, die wehrt sich. Und warum soll es denn nicht ein Königinnenreich Salome geben? Mit so einem Cliffhanger habe ich dann auch diese Oper beendet.
Ich muss ehrlich zugeben, dass du mir mit deiner Oldenburger Inszenierung sogar das aus meiner Sicht unsägliche Musical „Chess“ schmackhaft gemacht hast. Die Musik ist ja durchaus okay, aber dieses Buch! Was ist das für ein Buch?
(lacht) Ja, an „Chess“ habe ich richtig gebastelt. Die Autoren selbst basteln ja auch ständig an dem Stück herum – die Arbeit daran ist für sie noch nicht beendet. Es hat keine Dramaturgie. Gar keine. Du musst da richtig ran. Wie mit Klebstoff das Stück zusammenkleben. Da musste so viel getan werden, damit es überhaupt ein Stück wird. Es ist zuerst ein Songbook gewesen – und das merkt man diesem Werk bis heute an. Aber ich hab’s am Ende wirklich geliebt.
Was macht für dich eine gute Musiktheater-Inszenierung aus?
Wenn alle zusammenarbeiten. Musiktheater ist das Komplexeste überhaupt. Ich kann keinen guten Abend gestalten, wenn ich keine enge Bindung zu meiner Musikalischen Leitung habe. Da müssen alle mit durch. Ich arbeite eng mit meinen Dirigentinnen und Dirigenten zusammen – von Anfang an. Wir atmen gemeinsam, wir denken gemeinsam. Die schlimmsten Erfahrungen hatte ich, wenn das nicht funktioniert hat. Wenn das Vertrauen fehlt, geht alles kaputt. Du kannst nicht sagen: „Inszenierung war toll, aber das Dirigat war Mist.“ Oder umgekehrt. Das gibt’s nicht. Entweder wir glänzen zusammen oder wir gehen zusammen unter. Die Menschen auf der Bühne sind so abhängig von uns. Das geht nur mit Vertrauen.
Ich liebe es ja, wenn das Orchester mit auf der Bühne sitzt und in die Inszenierung integriert wird – gerade heutzutage, wo im Orchesterbereich so viel gekürzt wird.
Absolut. Ich arbeite total gern mit Musikerinnen und Musikern auf der Bühne. Ich liebe es, wenn das Orchester sichtbar wird.
Wie wichtig ist dir eine gesellschaftliche oder politische Lesart bei deinen Inszenierungen?
Ich denke ehrlich gesagt gar nicht so bewusst darüber nach. Ich gucke auf das nächste Stück und frage mich: Interessiert mich das gerade? Hat das noch Relevanz? Wenn ja, dann kann ich das zeigen. Aber ich muss nicht alle in Jeans und Hoodie stecken, damit es heutig wirkt. Es geht um Assoziationsräume. Ich muss Räume aufmachen, damit sich das Publikum irgendwo einhaken kann. Und ja, manche Stücke sind mir gerade ganz nah. Aber ich muss sie nicht nach Amerika verlagern, um politische Schieflage zu zeigen. Ich kann auch ohne plakative Bilder die Assoziationen bauen. Wenn ich ein Stück gar nicht mehr aus heutiger Sicher lesen kann, dann mache ich es nicht. Aber meistens geht das, denn Themen wie Liebe, Hass, Eifersucht und Gesellschaft ändern sich nicht. Nur die Gewänder drumherum.
Interview: Dominik Lapp