„Chess“ (Foto: Dominik Lapp)
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Phänomenaler Musicalabend: „Chess“ in Oldenburg

Der Kalte Krieg, Rivalität, politische Ränkespiele und Romantik – das Musical „Chess“ der ABBA-Männer Benny Andersson und Björn Ulvaeus hat alle notwendigen Zutaten für ein emotional mitreißendes Stück. Dennoch krankt es am komplexen Buch, das schon mehrfach überarbeitet wurde, aber nie besser wurde. Das ist am Oldenburgischen Staatstheater nicht anders. Auch hier benötigt es eine gute halbe Stunde, bis die Handlung in Fahrt kommt. Auch hier gibt es keinen offensichtlichen Helden, die kühlen Charaktere sind nur schwer dem Publikum nahezubringen. Doch mit einem durchdachten Inszenierungskonzept und einer herausragenden Cast schafft es Regisseurin Andrea Schwalbach, einen Musicalabend par excellence zu kreieren.

Das surreale Bühnenbild von Stephan von Wedel besteht aus einem überdimensionalen, hochkant stehenden Schachbrett in Gitterform, das durch Videoprojektionen (Sven Stratmann), Requisiten und eine abgeschrägte Spielfläche mit mehreren Quadern in verschiedenen Höhen ergänzt wird. Alles steht also im Zeichen des Schachs – so ziehen sich auch Schwarz-, Weiß- und Grautöne durch das zeitlos-schlichte Kostümbild von Frank Lichtenberg, während die Szenen in Meran und Bangkok etwas mehr Farbe zulassen.

Weil die abstrakte Bühne nicht allzu viel Bombast auffährt, stehen die Figuren sehr stark im Fokus und Andrea Schwalbach kann hervorragend ihr Fingerspitzengefühl bei den Charakterzeichnungen beweisen. Sie lässt zwei Schachspieler von Weltrang gegeneinander antreten, die nicht nur um den persönlichen, sondern auch um einen weltpolitischen Sieg sowie für das Image ihrer Nationen kämpfen.

„Chess“ (Foto: Dominik Lapp)

Nachdem die Inszenierung erst etwas schwerfällig in Gang kommt, spannt Schwalbach einen Spannungsbogen zwischen einem Kampf gegen Presse, Geheimdienst und vor allem um eine Frau. Dabei lässt sie die Protagonisten zu Figuren in einem genauso strategischen wie manipulativen Spiel werden und schafft es, dass man den unterkühlten Charakteren doch etwas Sympathie abgewinnen kann. Einen guten Schwung bringt zudem die sehenswerte Choreografie von Kati Farkas in die Szenerie.

Getragen wird „Chess“ in Oldenburg von drei starken Gästen. Marc Clear mimt schauspielerisch überzeugend den russischen Schachprofi Anatoly Sergievsky und liefert mit seiner emotionalen Interpretation der deutschen Version von „Anthem“ (Übersetzung: Kevin Schroeder) zum Ende des ersten Akts einen von vielen musikalischen Höhepunkten. Als amerikanischer Schachprofi Frederick Trumper steht ihm Ruud van Overdijk in nichts nach, stellt mit seinem hohen Rockfalsett ein herrliches Gegenstück zu Clears lyrischem Tenor dar und eröffnet den zweiten Akt mit einem stimmstarken „One Night in Bangkok“ – der einzige Song in der Inszenierung, der im englischen Original verblieben ist.

„Chess“ (Foto: Dominik Lapp)

Neben den beiden brillanten Hauptdarstellern kann Ann Sophie Dürmeyer vollends bestehen. Nachdem sie zuletzt mit der Titelpartie in „Mata Hari“ eine reine Gesangsrolle einnahm, kann sie als Florence Vassy in „Chess“ nun auch schauspielerisch aus dem Vollen schöpfen. Wie Florence zwischen den beiden Schachspielern hin- und hergerissen ist, weiß Dürmeyer genauso authentisch wie mitreißend zu visualisieren. Darüber hinaus begeistert sie einmal mehr mit ihrer gefühl- und kraftvollen Stimme. Allein das, was Ann Sophie Dürmeyer an Bühnenpräsenz, Gesang und Schauspiel darbietet, ist es wert, diese „Chess“-Produktion zu sehen.

Ergänzt werden die drei Musicalgäste durch fabelhafte Mitglieder des Hausensembles, von denen insbesondere Martha Eason als Svetlana Sergievskaja und Mark Serdiuk als Schiedsrichter positiv hervorzuheben sind. Während Serdiuk geheimnisvoll wie eine Art Mephisto agiert, fesselt Eason in ihrer kleinen Rolle besonders gesanglich und harmoniert in der deutschen Version von „I know him so well“ wunderbar mit Ann Sophie Dürmeyer.

Als wahres Pfund erweist sich außerdem das, was satt aus dem Orchestergraben tönt: das Oldenburgische Staatsorchester unter der Leitung von Giuseppe Barile. Die Musikerinnen und Musiker sind eine auf den Punkt spielende sowie äußerst aufmerksame Begleitung und bringen die vielfältige Partitur zum Strahlen. Ob nun große symphonische Balladen oder poppige Passagen – das Orchester meistert dies alles mit Bravour und ist das letzte Zahnrad in der großen Maschinerie eines wirklich phänomenalen Musicalabends. Auf keinen Fall verpassen!

Text: Dominik Lapp

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".