Earcatch bei „Die Eiskönigin“ (Foto: Dominik Lapp)
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Barrierefreiheit, Teilhabe und Inklusion im Musical: So erleben blinde und seheingeschränkte Menschen „Die Eiskönigin“

Im Apollo Theater Stuttgart glitzert es nicht nur auf der Bühne – auch hinter den Kulissen passiert Großes. Mit dem Disney-Musical „Die Eiskönigin“ geht das Haus neue Wege in Sachen Barrierefreiheit, Teilhabe und Inklusion. Dank einer App namens Earcatch können blinde und seheingeschränkte Menschen das Stück nun vollständig miterleben – mit speziell entwickelter Audiodeskription, die punktgenau mit der Show synchronisiert ist.

Inklusion ist mehr als ein Wort

Theaterleiterin Constanze Müller beschreibt das Engagement des Hauses als tief verankert: „Bei Stage Entertainment engagieren wir uns schon seit Langem für Barrierefreiheit und Inklusion in unseren Theatern.“ Dazu zählen Fortbildungen, Empowerment-Workshops und gezielte Kooperationen mit inklusiven Organisationen.

Warum nun gerade „Die Eiskönigin“, nachdem das System schon beim „König der Löwen“ in Hamburg verwendet wird? Müller erklärt: „Als feststand, dass ‚Die Eiskönigin‘ in Stuttgart Premiere feiert, war schnell klar: Earcatch wollen wir auch hier umsetzen. Für uns ist das ein Herzensprojekt.“

Familien sollen gemeinsam erleben können, was für viele selbstverständlich ist: Theater in all seiner Kraft – unabhängig von individuellen Einschränkungen. Dafür bieten sich vor allem Shows an, die Familien ansprechen und eine möglichst lange Laufzeit haben.

Earcatch bei „Die Eiskönigin“ (Foto: Dominik Lapp)
Stellen das System in Stuttgart vor (von links): Maximilian Mann (Künstlerischer Leiter), Constanze Müller (Theaterleiterin), Anke Nicolai (Audiodeskriptorin) und Mereijn van der Heijden (CEO Earcatch).

Smartphone wird zum Erzähler

Doch was ist Earcatch genau? „Earcatch ist eine kostenlose App für mobile Endgeräte, über die blinde und seheingeschränkte Menschen Audiodeskriptionen erhalten können“, erklärt Mereijn van der Heijden, Geschäftsführer von Earcatch. Die App kommt ursprünglich aus den Niederlanden, ist dort bereits etabliert, und findet nun auch in Deutschland immer mehr Anwendung.

Ihr Prinzip ist denkbar einfach und dabei technisch raffiniert: Die Audiobeschreibungen werden im Vorfeld auf das eigene Smartphone geladen. Im Theater synchronisiert sich das Gerät automatisch mit der Show – mithilfe von Lichtsignalen, den so genannten Cues. Kein zusätzliches Equipment nötig, keine störenden Kopfhörer mit Kabel, sondern die eigenen Bluetooth-Kopfhörer, die man ohnehin fürs Smartphone verwendet. „Weltweit nutzen bereits über 40.000 Menschen Earcatch. Tendenz steigend“, sagt van der Heijden.

Eine warme, ausdrucksstarke Stimme

Dass eine gute Audiodeskription mehr ist als nur das Nacherzählen von Szenen, weiß Anke Nicolai, erfahrene Autorin für barrierefreie Inhalte: „Ich arbeite grundsätzlich immer mit einem blinden Kollegen oder einer blinden Kollegin zusammen.“ Die Herausforderung bei Musicals? Es gibt kaum Pausen.

„Wir können nur beschreiben, wenn gerade nicht gesprochen oder gesungen wird. Also in den Lücken.“ Für „Die Eiskönigin“ bedeutete das ein exaktes Timing und die Reduktion auf das Wesentliche sowie ein fein abgestimmtes Zusammenspiel mit den Lichtsignalen der Show. „Jeder Cue war ein Zeitfenster, das sinnvoll genutzt werden musste. Oft waren es nur wenige Silben, die Platz hatten“, erklärt Nicolai.

Die finale Stimme zur Audiodeskription steuert Schauspieler Benito Bause bei, bekannt unter anderem aus den TV-Serien „Doppelhaushälfte“ und „Ghosts“. Seine warme, ausdrucksstarke Stimme macht das Zuhören zu einem Erlebnis. Zusätzlich liefert die App eine ausführliche Audioeinführung in Kapiteln zu Bühnenbild, Figuren und Handlung, die man sich zur Vorbereitung auf den Musicalbesuch bereits zu Hause anhören kann.

Apollo Theater Stuttgart (Foto: Dominik Lapp)

Kreativer und respektvoller Feinschliff

Auch künstlerisch wurde die Umsetzung eng begleitet. Maximilian Mann, Künstlerischer Leiter am Apollo Theater, lobt die einfühlsame Arbeit des Teams: „Die erste Version der Audiodeskription kam sehr gut an. Sie war so nah dran am Bühnengeschehen, dass selbst die Verantwortlichen überrascht waren, wie präzise und respektvoll die künstlerische Arbeit in Sprache übersetzt wurde.“

Besonders die ikonische Szene, in der Elsa sich in die Eiskönigin verwandelt, stellte das Team vor eine Herausforderung. „Diese Transformation ist ein absoluter Wow-Moment. Das Bühnenbild, die Magie, das Licht – alles greift perfekt ineinander“, sagt Anke Nicolai. Künstliche Intelligenz war dabei keine Option. „Alles wurde komplett von Menschen gemacht – mit viel Herzblut, Fachwissen und Erfahrung.“

Inklusives Gesamterlebnis

Und das Engagement für den barrierefreien Musicalbesuch geht weiter: Als nächstes folgt eine so genannte Relaxed Performance von „Die Eiskönigin“ mit reduzierten visuellen Reizen, gedimmtem Licht im Theatersaal sowie entspannter Atmosphäre und Raum für Menschen, die sonst aufgrund einer Einschränkung eher selten ins Theater gehen.

Auch das nächste Stück steht für die Audiodeskription bereits in den Startlöchern. Künftig soll Earcatch beim Michael-Jackson-Musical „MJ“ in Hamburg Anwendung finden. Dort gibt es eine neue Herausforderung: „Bei ‚MJ‘ wird fast durchgängig gesungen und getanzt. Es gibt 25 große Songs, und dazwischen ist kaum Raum für Beschreibung“, erzählt Anke Nicolai.

Doch der Weg ist klar: Die Bühne wird barrierefrei. Und das Publikum? Wird größer, vielfältiger und vor allem gemeinschaftlicher. Beim „König der Löwen“ haben seit September 2023 bereits über 1.000 Menschen Earcatch genutzt. Wie viel Geld Stage Entertainment für das Projekt in die Hand genommen hat, dazu hält sich die Stuttgarter Theaterleiterin Constanze Müller recht bedeckt, verrät nur so viel: „Wir hatten ursprünglich ein Budget von 15.000 Euro. Das hat aber nicht ausgereicht.“

Text: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".