Modernes Märchen fetzt: „Hänsel und Gretel“ in Kassel
Am Staatstheater Kassel zeigt sich die Oper „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck (Musik) und Adelheid Wette (Libretto) in einer Lesart, die das Märchen entschlossen in die Gegenwart überführt und dabei erstaunlich folgerichtig wirkt. Regisseurin Jessica Glause vertraut nicht auf nostalgischen Waldzauber, sondern auf die harte Realität einer Familie. Dass Armut kein historisches Relikt ist, sondern brennend aktuell, wird hier mit klarem Blick erzählt.
Hänsel und Gretel wachsen in dieser Inszenierung zwischen Wäschebergen auf. Die Mutter betreibt eine Wäscherei, Wäschewagen stehen überall, Textilien türmen sich wie ein materielles Sinnbild für die Last des Alltags. Wenn der Vater nach einem erfolgreichen Arbeitstag auf einem E-Scooter nach Hause kommt, Popcorn im Korb auf dem Rücken mitführt und dieses in hohem Bogen durch den Raum und sogar ins Publikum sprüht, wird das Märchen nicht lächerlich, sondern überraschend berührend. Glause gelingt die Transformation, weil sie den Kern des Stücks ernst nimmt: den existenziellen Mangel und den kindlichen Überlebenswillen.
Die Einbindung lokaler Jugendlicher als Bühnenhandwerker, die immer wieder in Jugendsprache kommentierend auftreten, schafft eine zusätzliche Reflexionsebene. Der Jugendchor als Waldbewohner erweitert den Raum klanglich und atmosphärisch, auch wenn die besondere Architektur der Interimsspielstätte ihre Tücken hat. Der rechteckige Bau, entstanden für die Zeit währen der Sanierung des Stammhauses, platziert das Publikum vor, hinter und auch neben der Spielfläche. Das erzeugt Nähe und Teilhabe, führt aber akustisch zu Problemen: Gesang erreicht oft nur jene, in deren Richtung gerade gesungen wird. Diese Einschränkung schmälert punktuell den musikalischen Genuss, ohne jedoch die Kraft des Abends grundsätzlich zu untergraben.

Das Bühnenbild von Florian Stirnemann und Louise Nguyen nutzt die Gegebenheiten der Interimsspielstätte klug. Monitore sind allgegenwärtig, ein Kameramann bewegt sich sichtbar auf der Bühne und fängt das Geschehen im Nahen ein, Texte werden übertragen, Perspektiven wechseln. Beim Auftritt des Sandmännchens dreht sich die Haupttribüne samt Publikum einmal um 360 Grad. Dieser Moment ist mehr als ein Gag: Er stiftet gemeinsames Staunen, macht Theater als Erlebnis erfahrbar und verankert das Publikum buchstäblich im Geschehen. Aber auch das Knusperhäuschen ist fantasievoll gestaltet: in Form eines überdimensionalen Eichhörnchens, verziert mit allerlei Leckereien, mit integriertem Ofen und Puff-Peng-Effekt am Ende.
Kostümbildnerin Mai Gogishvili setzt klare Kontraste. Die Familie ist konsequent in Grau gehalten, farblich reduziert, fast ausgelaugt. Umso stärker leuchten Sand- und Taumännchen in fantasievollen, bunten Kleidern. Der unbestrittene Hingucker ist jedoch die Knusperhexe: ein rosa-pinker Traum mit grünen Haaren, der alles dominiert.
Musikalisch trägt Dirigent Viktor Jugović den Abend mit sicherer Hand. Das Staatsorchester Kassel spielt kraftvoll, transparent und mit Sinn für Humperdincks spätromantische Farben. Die Balance zwischen Märchenhaftigkeit und dramatischem Ernst gelingt überzeugend.

Maren Engelhardt als Hänsel und Marta Kristín Friðriksdóttir als Gretel bilden ein lebendiges, glaubwürdiges Geschwisterpaar, stimmlich sauber geführt und darstellerisch präsent. Margrethe Fredheim verleiht der Mutter Schärfe und Verzweiflung. Stefan Hadžić gibt dem Vater Wärme und eine leise Komik, die nie ins Banale kippt. Clare Tucker überzeugt als Sand- und Taumännchen mit hellem, klar geführtem Sopran und poetischer Erscheinung.
Der Abend gehört jedoch James Edgar Knight als Knusperhexe. Er hat sichtlich Spaß an dieser bösen, überdrehten Figur, die nicht auf dem Besen reitet, sondern auf einer Rakete durch den Raum schießt. Spiel, Mimik und Stimme verbinden sich zu einem hinreißenden Porträt des Exzesses. Mit kraftvollem Heldentenor, präziser Textverständlichkeit und großer Bühnenpräsenz macht Knight die Hexe zur faszinierenden Bedrohung und zum Star des Abends.
So zeigt „Hänsel und Gretel“ in Kassel, wie lebendig und relevant die Märchenoper heute sein kann: verspielt, kritisch, musikalisch stark und mit einer Hexe, die man so schnell nicht vergisst. Am Ende gibt’s dafür den verdienten Jubel und langanhaltenden Applaus.
Text: Dominik Lapp

