Kleine Heldin, große Wirkung: „Matilda“ in Baden
Es ist ein Wagnis, das sich auszahlt: Mit „Matilda“ holt das Theater Baden ein im deutschsprachigen Raum eher unbekanntes Musical auf den Spielplan. Die Vorlage von Roald Dahl, von Dennis Kelly klug und pointiert zum Musical geformt, lebt von der doppelten Ansprache: Sie erzählt von einer kindlichen Heldin und richtet sich zugleich mit beißendem Humor und gesellschaftlicher Schärfe an das erwachsene Publikum. Die Musik und Songtexte von Tim Minchin verbinden Virtuosität, Ironie und emotionale Direktheit, Sabine Ruflairs deutsche Fassung trifft Tonfall und Rhythmus mit bemerkenswerter Präzision.
Regisseur Andreas Gergen findet für diesen Stoff eine eigene Linie. Seine Inszenierung nimmt das Kindliche ernst, ohne es zu verniedlichen, und lässt die dunklen Untertöne deutlich hervortreten. Bildung, Selbstbestimmung und Zivilcourage werden hier nicht als pädagogische Lektion ausgestellt, sondern als gelebte Notwendigkeit. Dass Gergen „Matilda“ auf die Bühne Baden bringt, wirkt wie ein bewusstes Statement: Dieses Musical ist weit mehr als Familienunterhaltung, es ist kluge Gesellschaftskritik mit Herz.
Ein zentraler Motor des Abends ist die Choreografie von Francesc Abós. Tanz ist hier niemals bloßes Beiwerk, sondern integraler Bestandteil der Erzählung. In den energiegeladenen Ensemblenummern, getragen von einem großen und hochpräzisen Kinderensemble, wird die Geschichte ebenso erzählt wie in den Dialogen. Bewegung wird zur Sprache des Widerstands, zur kollektiven Kraft gegen Unterdrückung und Willkür.
Das Bühnenbild von Stephan Prattes schafft rasch wechselnde, klar konturierte Räume: Die Wohnung der Wurmwalds leuchtet in bunten Siebzigerjahre-Tapeten, schrill und überladen wie die Familie selbst, während die Schule mit tristen Möbeln, Spinden und kalter Funktionalität jede Freude am Lernen erstickt. Die Kostüme von Aleksandra Kica greifen diese Gegensätze auf. Schuluniformen stehen gegen die grell gemusterten Outfits von Matildas Eltern, die Bildung verachten und Oberflächlichkeit zelebrieren. Stephanie Afflecks atmosphärisches Lichtdesign modelliert diese Welten mit feinem Gespür und unterstützt die Umschwünge des Abends.

Musikalisch ist „Matilda“ in Baden in besten Händen. Christian Frank leitet das Orchester mit Verve und Genauigkeit. Die rhythmisch komplexen, emotional weit gespannten Songs Tim Minchins entfalten Witz, Drive und Tiefe, ohne je ihre Klarheit zu verlieren.
Im Zentrum steht Liv Perman als Matilda. Sie ist eine starke, kluge, zutiefst sympathische Heldin, die mit Witz, Fantasie und innerer Standhaftigkeit gegen Ungerechtigkeit antritt. Perman überzeugt mit großer Natürlichkeit, darstellerischer Präzision und starker Gesangsleistung. Ihre Matilda ist kein Wunderkind zum Staunen, sondern ein Kind zum Lieben, eines, das man in seinem Mut und seiner Einsamkeit ernst nimmt.
Ann Mandrella gibt Frau Wurmwald schrill und überzeichnet: eine Frau, die sich fast ausschließlich für Aussehen, Tanzen und Unterhaltung interessiert und Bildung für überflüssig, ja gefährlich hält. Ihre Verachtung für Matildas Liebe zum Lesen ist geradezu grotesk. Boris Pfeifer ergänzt dieses Elternpaar als Herr Wurmwald mit betrügerischer, unehrlicher und ausgeprägt anti-intellektueller Haltung – ein satirisches Zerrbild, das dennoch nah an der Realität bleibt.
Einen warmen Gegenpol bildet Anna Rosa Döller als Fräulein Honig. Sie verkörpert Herz und Gefühl, ist warmherzig, bescheiden und von stiller Liebenswürdigkeit. Ihre Verletzlichkeit und ihr Mut zur Empathie machen sie zur emotionalen Ankerfigur des Abends. Als Agathe Knüppelkuh herrscht Andreas Lichtenberger furchteinflößend über die Schule. Nach seiner Edna Turnblad in „Hairspray“ zeigt er erneut, wie virtuos er Frauenrollen gestaltet. Seine Knüppelkuh regiert diktatorisch, Regeln dienen ihr nicht dem Schutz, sondern der Einschüchterung – Komik und Bedrohlichkeit liegen hier nah beieinander. Tertia Botha gibt der ruhigen Bibliothekarin Frau Schilf stille Würde, Konstantin Pichler als Michael Wurmwald und Timotheus Hollweg als Rudolpho fügen sich präzise ins Gesamtbild.
Das Musical „Matilda“ entfaltet in Baden jenen besonderen Sonnenschein-Effekt, der dieses Musical auszeichnet: Trotz düsterer Themen bleibt ein Gefühl von Hoffnung, Wärme und Zuversicht. Humor mit Biss, markante Figuren, mitreißende Musik und starke Tanznummern verbinden sich zu einem Abend, der unterhält und berührt, ohne je belehrend zu wirken.
Text: Patricia Messmer

