Francesc Abós (Foto: Dominik Lapp)
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Interview mit Francesc Abós: „Tanz ist nicht nur Bewegung – er muss Bedeutung haben“

Bei den diesjährigen Freilichtspielen in Tecklenburg zeichnet Francesc Abós für die Choreografie der beiden Musicals „Priscilla – Königin der Wüste“ und „Titanic“ verantwortlich. Mit Beginn der Spielzeit 2025/2026 übernimmt er zudem die Leitung des Tanzensembles an der Bühne Baden. Im Interview erzählt er, wie er Geschichten in Bewegung übersetzt, warum er die choreografische Arbeit mittlerweile dem Rampenlicht vorzieht und welche Herausforderungen das Arbeiten unter freiem Himmel mit sich bringt.

Du arbeitest bei den Freilichtspielen Tecklenburg nun schon wiederholt mit Regisseur Ulrich Wiggers zusammen. Wie läuft diese Zusammenarbeit ab?
Ulli und ich kennen uns schon sehr lange, denn wir waren Kollegen bei „Tanz der Vampire“ in Berlin. Wir ticken sehr ähnlich, das merkt man auch in der kreativen Arbeit: Manchmal notieren wir gleichzeitig dieselben Ideen, ohne es vorher abgesprochen zu haben. Unsere Zusammenarbeit ist von großem gegenseitigem Respekt geprägt. Natürlich haben wir auch unterschiedliche Meinungen, aber wir lernen voneinander – immer auf Augenhöhe und in einem sehr ruhigen Ton. Für „Priscilla“ haben wir gemeinsam entschieden, uns von der Originalversion zu lösen und einen neuen Zugang zu entwickeln. Statt die Tänzer nur als Drag-Performer zu zeigen, wollten wir ihnen Tiefe geben. In unserer Version verkörpern viele Tänzer tierische Wesen – sie sind Teil der Geschichte, nicht nur Hintergrund. Für mich ist Tanz nie Selbstzweck. Tanz ist nicht nur Bewegung – er muss Bedeutung haben und zur Handlung beitragen. Ulli sieht das genauso. Ich glaube, unsere Inszenierung hat dadurch einen ganz besonderen Zugang erhalten.

Wie wirkt sich die offene Freilichtbühne auf deine Arbeit aus?
Sie bringt viele Herausforderungen mit sich. Der Steinboden ist hart, was gerade für Tänzerinnen und Tänzer eine Belastung ist. Man muss sehr auf die Knie achten. Dazu kommt die Rutschgefahr bei Regen, vor allem auf dem vorderen Holzboden. Ein weiteres Thema sind die hohen Schuhe, besonders bei den Tänzern in „Priscilla“. Das sind teilweise riesige Plateaus – optisch toll, tänzerisch aber anspruchsvoll. Ich musste also die Choreografien entsprechend anpassen. Die Dimensionen der Bühne selbst sind auch nicht zu unterschätzen. In einem klassischen Theater hat man einen klaren Rahmen – in Tecklenburg ist alles offen und weit. Man muss viel größer denken, damit die Wirkung auch in den hinteren Reihen ankommt. Ich habe das schon bei „Mamma Mia!“ im letzten Jahr geübt – dieses Jahr konnte ich es noch gezielter umsetzen.

In den Tecklenburger Musicalproduktionen wirkt auch immer ein Chor mit. Wie integrierst du diesen choreografisch?
Viele denken, mit einem semiprofessionellen Chor zu arbeiten, sei schwieriger – tatsächlich ist es manchmal sogar einfacher als mit einem professionellen Opernchor. Der Chor in Tecklenburg besteht aus Menschen, die das aus Leidenschaft tun. Sie kommen abends nach der Arbeit zu den Proben, weil sie Spaß daran haben. Diese Freude ist spürbar. Natürlich sind sie keine Profitänzer, aber sie sind sehr motiviert. Ich fordere sie gerne heraus, mache Dinge vielleicht am Anfang etwas komplizierter – und sie wachsen daran. Die einzige Schwierigkeit war dieses Jahr, dass wir wetterbedingt in den ersten Wochen viel Zeit verloren haben. Da hätte ich mir mehr Proben mit dem Chor gewünscht. Aber was sie leisten, ist großartig.

Francesc Abós (Foto: Dominik Lapp)
Francesc Abós genießt seine Arbeit als Choreograf und auch als Regisseur. Seine aktive Zeit als Tänzer vermisst er nicht.

In „Priscilla“ geht es um eine Busreise durch Australien. Wie bringt man so etwas tänzerisch auf die Bühne?
Ich habe eine persönliche Verbindung zu Australien – ich hatte viele Jahre ein Haus dort und bin selbst diesen langen Weg durch die Wüste gefahren. Für unsere Inszenierung habe ich mir überlegt: Wer oder was begegnet einem auf dieser Reise? Im Original kommen Tiere nur am Ende vor – wir aber haben sie über das ganze Stück hinweg eingebaut. Sie stehen symbolisch für Begegnungen, für Zwischenstationen, für Transformation. Ich wollte, dass diese Reise nicht nur eine äußere, sondern auch eine innere ist.

Du kommst vom klassischen Ballett, hast bei John Neumeier gelernt, warst danach Solotänzer in Musicalproduktionen. Vermisst du die Bühne als Tänzer?
Überhaupt nicht. Mein letzter Auftritt war bei „Tanz der Vampire“ – mit Ulli Wiggers. Danach habe ich ganz bewusst entschieden, hinter die Bühne zu wechseln. Ich wollte Choreograf werden, und ich finde, wenn man so eine Entscheidung trifft, sollte man sie konsequent leben. Ich war damals Anfang 30, habe mich zurückgezogen, bin nach Spanien gegangen – und bin inzwischen viel länger Choreograf, als ich Tänzer war. Ich hatte nie das Gefühl, etwas zu vermissen. Im Gegenteil: Ich empfinde heute oft mehr Emotionen in meiner Arbeit als damals auf der Bühne.

Wie kam es zu diesem Wechsel?
Ich hatte gegen Ende meiner Tänzerzeit schon als Dance Captain gearbeitet und kleinere Choreografien übernommen. Dann kam eine schwere Bandscheibenverletzung. Der Arzt sagte mir, dass ich mir etwas überlegen muss, wie es weitergeht. Ich habe mich erholt, aber mir war klar, dass das ein Zeichen ist. Ich bekam die Chance, in Spanien bei „Spamalot“ die Choreografie für eine große Produktion zu übernehmen – und habe sie ergriffen. Ab da lief es gut. Ich hatte viel Glück, aber ich habe auch viel gearbeitet. Es gab keine Pause, keine Phase, in der ich mich fragen musste, was als nächstes kommt. Dafür bin ich sehr dankbar.

Du warst lange als Dance Supervisor für die Originalinszenierung des Musicals „Chicago“ tätig. Was macht man in dieser Position konkret?
Man könnte es als Qualitätsmanager bezeichnen. Ich war für alle „Chicago“-Produktionen in Europa zuständig und habe neue Casts zusammengestellt, die Choreografie vermittelt, Proben geleitet – und regelmäßig überprüft, ob die Shows international noch dem Originalstandard entsprechen. Als Supervisor muss man auch flexibel sein: Nicht jede Darstellerin ist eine Top-Tänzerin, also gibt es je nach Fähigkeit verschiedene choreografische Versionen einer Nummer. Diese Passformen entscheide ich mit, bevor die Produktion startet. Danach fliege ich alle paar Monate wieder hin und kontrolliere, ob alles auf dem richtigen Niveau ist.

Andreas Gergen und Francesc Abós (Foto: Dominik Lapp)
Mit Regisseur Andreas Gergen (links) hat Choreograf Francesc Abós im Jahr 2024 das Musical „3 Musketiere“ in Tecklenburg auf die Bühne gebracht. Künftig arbeiten beide an der Bühne Baden zusammen.

Künftig leitest du das Tanzensemble der Bühne Baden. Was erwartet dich dort?
Ich bin sehr stolz auf diese neue Aufgabe. Es ist kein klassisches Ballettensemble mehr, sondern ein tänzerisches Musicalensemble – und ich leite es. Ich choreografiere dort auch Produktionen wie „Wicked“ oder „Matilda“.

Du wirst dort ja eine Non-Replica-Inszenierung von „Wicked“ choreografieren, während Andreas Gergen Regie führt. Wie geht man damit um, ein so ikonisches Stück neu zu erfinden?
Das wird tatsächlich eine große Herausforderung. Unser Konzept musste nach New York zum Broadway geschickt werden, zur Genehmigung. Wir mussten zeigen: Was machen wir anders? Ich habe den Film gesehen – aber nur einmal. Ich werde ihn mir erst wieder anschauen, wenn unsere Inszenierung fertig ist. Denn ich will meine eigene Handschrift einbringen. Wir erzählen die Geschichte auf unsere Weise – mit viel Respekt, aber auch mit Mut zur eigenen Interpretation.

Du hast sicher viele Ideen für Choreografien. Wenn dir eine neue Idee kommt, wie hältst du sie fest? Schreibst du sie auf? Sprichst du sie ins Handy?
Ich denke immer, wenn eine Idee wirklich gut ist, dann bleibt sie. Wenn sie nicht gut ist, dann verschwindet sie von allein. Das ist einfach so. Aber ich habe tatsächlich auch ein Notizbuch, in das ich meine Ideen schreibe. Wenn ich in einem kreativen Prozess bin, liegt es direkt neben meinem Bett auf dem Nachttisch. Oft kommen mir Ideen in der Nacht, im Traum. Manchmal wache ich auf und denke: Genau so muss ich das machen! Dann schreibe ich es sofort auf. So sammle ich die Ideen alle an einem Ort. Was ich dann umsetzen möchte, das mache ich meistens noch am selben Tag. Ich bin Frühaufsteher, also stehe ich um sechs oder halb sieben auf. Die Proben beginnen erst um zehn – das gibt mir morgens Zeit. Dann gehe ich in den Probenraum und beginne. In diesem Moment kommen die Bewegungen wie von selbst, weil ich ganz in dem bin, was entstehen soll.

„Mamma Mia!“ in Tecklenburg (Foto: Dominik Lapp)
Auch für „Mamma Mia!“, das die Freilichtspiele Tecklenburg zu ihrem 100-jährigen Jubiläum zeigten, entwickelte Francesc Abós die Choreografie.

Ich muss ehrlich zugeben, dass deine choreografische Arbeit meinen Blick auf Tanz in Musicals verändert hat. Oftmals ist der Tanz – außer es ist ein klassisches Tanzmusical – nur Beiwerk und wird eher stiefmütterlich behandelt. Während in vielen Musicals Schauspiel und Gesang fokussiert werden, findet Tanz kaum statt. Aber seitdem ich einige Arbeiten von dir gesehen habe, nehme ich das Genre Musical nach all den Jahren noch einmal ganz anders wahr. Weil ich gemerkt habe: Tanz kann die Geschichte genauso tief mittragen – selbst in Szenen, in denen man gar keine Choreografie erwartet.
Absolut. Wenn wir über Musicals sprechen, dann reden wir ja immer vom Triple Threat: singen, tanzen, schauspielern. Alle drei Elemente sind wichtig, alle drei erzählen die Geschichte. Es kann nicht sein, dass der Tanz plötzlich einfach nur so nebenbei passiert. Wenn ein Musical wirklich gut sein soll, dann müssen diese drei Dinge ineinandergreifen. Und für mich ist es sehr wichtig, dass Tanz nicht nur Bewegung ist, sondern einen Sinn ergibt und Teil der Erzählung ist. Tanz heißt ja nicht immer Pirouetten und große Sprünge – manchmal ist es nur ein Kampf in der Körpersprache, ein Moment, in dem man einfach präsent ist. Aber das ist schon Tanz. Das ist schon Bewegung.

Neben deiner Tätigkeit als Choreograf führst du auch hin und wieder Regie. Willst du das künftig stärker fokussieren?
Ja, definitiv. Ich bekomme auch immer mehr Regieanfragen. Und meine Art zu choreografieren ist sowieso sehr erzählerisch, stark an den Figuren und Darstellern orientiert. Vor zehn Jahren hätte ich mich das vielleicht noch nicht getraut. Jetzt bin ich soweit – und es macht mir große Freude. Es ist sicher ein Weg, den ich weiterverfolg werde. Ich freue mich aber weiterhin auch als Choreograf auf die Zusammenarbeit mit tollen Regisseuren.

Interview: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".