Sinkflug der Weltlage: „Anything Goes“ in Hannover
„Anything Goes“ ist ein Musical, dessen größte Schwäche seit jeher sein Buch (Guy Bolton, P. G. Wodehouse, Howard Lindsay und Russel Crouse; Neufassung: Timothy Crouse und John Weidman) ist: flach, episodisch, von einer Handlung getragen, die eher dahinplätschert als vorantreibt. Auch in der Neuinszenierung der Staatsoper Hannover lässt sich dieses strukturelle Problem nicht kaschieren. Dass der Abend dennoch immer wieder zündet, ist vor allem der sehr pointierten Neuübersetzung von Niklas Wagner und Roman Hinze zu verdanken, die auch schon in Magdeburg erprobt wurde. Ihre Dialoge sitzen, die Wortspiele funkeln und der Sprachwitz sorgt für eine gewisse Spritzigkeit.
Regisseurin Adriana Altaras – bislang vor allem als Opernregisseurin profiliert, sieht man einmal von ein paar wenigen Musicals wie „Anatevka“ in Osnabrück ab – nutzt das komödiantische Potenzial des Stücks allerdings nicht durchgängig aus. Die Pointen stehen zwar sauber im Raum, doch der große Klamauk, das tänzerische Überschäumen, das „Anything Goes“ auch sein kann, bleibt stellenweise gebremst. Stattdessen setzt Altaras auf einen interpretatorischen Zugriff, der überrascht und überzeugt: Sie liest das Musical als Stück über Anarchie, Zweifel und gesellschaftlichen Verfall.
Die MS America ist hier kein schillerndes Luxusgefährt, sondern ein bewusst heruntergekommenes, abgerocktes Schiff als Sinnbild einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft. Der Blick auf die schlechte Verfassung der USA weitet sich dabei unübersehbar zu einem Kommentar auf die Weltlage insgesamt. Diese Perspektive verleiht dem Abend ein wenig Ernsthaftigkeit, auch wenn sie gelegentlich mit der Leichtfüßigkeit der Vorlage kollidiert.
Das Bühnenbild von Timo Dentler und Okarina Peter macht diese Lesart eindrücklich sichtbar. Das Schiff im Zentrum der Bühne wirkt müde, abgewohnt, beinahe hoffnungslos, und doch bleibt es ein Spielfeld für Sehnsucht und Eskapismus. Die Kostüme des Duos hingegen erstrahlen in hübschen Schnitten und Farben und bilden so einen exzellenten Kontrast: Die High Society ist beim Sinkflug der Weltlage live dabei. Fabian Grohmanns Lichtdesign zwischen Revueglanz und melancholischer Ernüchterung unterstützt die Atmosphäre zudem präzise.
Ein entscheidender Trumpf der Produktion ist die Musik von Cole Porter, die hier in all ihrer Eleganz und rhythmischen Raffinesse zur Geltung kommt. Am Pult des Niedersächsischen Staatsorchesters sorgt Piotr Jaworski für federnde Tempi und stilistische Klarheit, Chorleiter Lorenzo Da Rio formt einen klanglich präsenten, spielfreudigen Chor. Bart De Clercqs präzise und dynamische Choreografie gibt dem Abend jene Energie, die ihm szenisch fehlt.
Die starke Cast trägt die Show mit sichtbarer Spielfreude. Bettina Mönch ist als Reno Sweeney eine Erscheinung: stimmlich souverän, charismatisch und mit jener Mischung aus Coolness und Ironie ausgestattet, die diese Rolle braucht. Julia Sturzlbaum gibt der Hope Harcourt lyrische Wärme und glaubwürdige Zerrissenheit, während Carmen Fuggiss als Evangeline Harcourt mit trockenem Humor punktet. Max Dollinger zeichnet Lord Evelyn Oakleigh mit sympathischer Steifheit, Frank Schneiders überzeugt als Elisha Whitney mit komödiantischem Timing. Christof Messner verleiht Billy Crocker jugendlichen Charme, Dirk Schäfer macht Moonface Martin zum schillernden Störenfried, während Amani Robinson als Erma einen selbstbewussten, energiegeladenen Akzent setzt.
So bleibt „Anything Goes“ an der Staatsoper Hannover ein Abend mit Ecken und Kanten: dramaturgisch nicht immer zwingend, komödiantisch stellenweise zurückhaltend, dafür musikalisch glänzend und choreografisch kraftvoll. Das kann man sich guten Gewissens ansehen.
Text: Christoph Doerner

