
Zwischen Schachzügen und Gefühlen: „Chess“ in Baden
„Chess“ ist ein Unikat im Repertoire der Musicalwelt – ein Werk, das ebenso viele geniale Einfälle wie strukturelle Probleme mit sich bringt. Es basiert nicht auf einer durchdachten Handlung, sondern auf einem Konzeptalbum aus den Achtzigerjahren, dessen Songs von Benny Andersson und Björn Ulvaeus Kultstatus erlangt haben. Der Plot von Tim Rice, der sich später darum rankte, wurde in zahllosen Versionen variiert und bleibt bis heute ein unfertiges Puzzle.
Jede neue Inszenierung steht vor der Herausforderung, Ordnung in das erzählerische Chaos zu bringen. Regisseur Andreas Gergen nimmt diese Aufgabe in Baden mutig an – und antwortet mit einer klaren, bildstarken Regiehandschrift, die versucht, den emotionalen Kern des Stücks freizulegen, ohne dessen politische und dramaturgische Brüchigkeit zu verleugnen.
Gergen, der die deutsche Fassung von Kevin Schroder spielen lässt, erkennt die Schwächen, doch er kapituliert nicht vor ihnen. Stattdessen deutet er die Leerstellen des Librettos kreativ um. So beginnt die Geschichte der Protagonistin Florence Vassy nicht im Hier und Jetzt des Kalten Kriegs, sondern in einer schmerzlich personalisierten Rückblende: Während des Ungarischen Volksaufstands 1956 bringt ihr Vater ihr das Schachspielen bei – ein symbolischer Akt der Weitergabe von Strategie, Kontrolle und Intelligenz – und verschwindet. Diese biografische Einbettung gibt Florence ein Motiv für ihr Ringen zwischen Liebe und Loyalität, das über das bloße Dreiecksdrama hinausweist. Rückblenden durchziehen die Inszenierung, geben innere Anker, wo der Text sie schuldig bleibt.
Auch auf der ästhetischen Ebene wird das Spiel mit Kontrasten bewusst gewählt. Das Bühnenbild von Momme Hinrichs setzt auf abstrakte Dunkelheit – Quader, wie ein fragmentiertes Schachbrett, strukturieren den Raum. Sie werden von Videoeinspielungen ergänzt, die Gedankenräume öffnen und historische Referenzen einblenden. Die Drehbühne verleiht dem Geschehen Dynamik, das Lichtdesign von Stephanie Affleck unterstützt die Atmosphäre mit gelungenen Akzenten.
Die Kostüme von Conny Lüders bleiben bewusst zeitlos, fast monochrom: Alle in dunklen Tönen, nur der Schiedsrichter – als Symbol objektiver Autorität – in Weiß. Eine visuelle Metapher für Macht und Kontrolle, die sich auch choreografisch widerspiegelt: Till Nau arbeitet mit Bewegungen zwischen klassischem Tanz und modernen Elementen, immer auf der Schwelle zwischen Ordnung und Auflösung.
Besondere Beachtung verdient die musikalische Umsetzung unter der Leitung von Victor Petrov. Der Dirigent führt das Orchester mit einer Mischung aus Präzision und Leidenschaft durch die komplexe Partitur von Benny Andersson und Björn Ulvaeus. Die Musik ist in ihrer Synthese aus Pop, Rock und Musicalelementen ebenso schillernd wie anspruchsvoll. Petrov lässt das Orchester leuchten und schafft großartige Klangräume.
Großartig ist auch die Cast. Drew Sarich als Frederick Trumper ist ein Vulkan auf der Bühne – ein provokanter, ständig unter Strom stehender Charakterdarsteller, dessen Energie das Publikum mitreißt. In „Pity the Child“ öffnet er seinen Charakter für einen Moment der Verletzlichkeit, der unter die Haut geht. Ihm gegenüber steht Mark Seibert als Anatoly Sergievsky – ein Mann, der mit sich selbst ringt, zerrissen zwischen Pflicht, Heimat und Gefühl. Seibert gestaltet diese Zerrissenheit differenziert, ohne Pathos, mit leiser Kraft. Sein „Anthem“ wird zur hymnischen Selbstvergewisserung eines innerlich zerrissenen Helden.
Femke Soetenga als Florence Vassy verleiht der Rolle eine hohe Glaubwürdigkeit. Ihre Stimme trägt mühelos über die orchestrale Fülle hinweg, ihr Spiel zeugt von Tiefe und Erfahrung – sie hat die Figur, die sie schon in zahlreichen Inszenierungen gespielt hat, mittlerweile mehr als verinnerlicht. Ann Mandrella als Anatolys Ehefrau Svetlana nutzt ihre kurze Bühnenzeit intensiv. Mit wenigen Gesten und Blicken skizziert sie die ganze Tragik einer Frau, die zwischen Liebe und Aufgabe verloren geht. Reinwald Kranner schließlich überzeugt als kalter, kontrollierter Schiedsrichter. Eine lebendige Allegorie des Spiels, das keiner gewinnt.
„Chess“ ist kein perfektes Musical – das kann es auch nicht sein. Doch die Inszenierung in Baden erkennt das an und verwandelt den Bruch in eine Qualität. Andreas Gergen inszeniert nicht gegen die Mängel des Stücks, sondern mit ihnen – er nutzt sie als dramaturgische Sprengkraft. Wenn beim Kultsong „One Night in Bangkok“ plötzlich Karaoke-Texte zum Mitsingen eingeblendet werden und das Publikum eingeladen ist, in dieses absurde Spiel einzusteigen, wird deutlich, dass hier kein historisches Lehrstück gespielt wird.
Text: Patricia Messmer