Stark in Szene gesetzt: „Ku’damm 59“ in Berlin
Gut zweieinhalb Jahre sind vergangen, seitdem das Musical „Ku’damm 56“ und die Geschichte der Schöllack-Schwestern rund um die Tanzschule Galant ihren Weg von der beliebten TV-Serie auf die Bühne fand und den Beginn einer Erfolgsserie markierte, an die zunächst niemand auch nur ansatzweise zu glauben gewagt hätte. Seitdem hat sich im Theater des Westens viel getan – inklusive neuer künstlerischer Intendanz. Jetzt feierte endlich der lang ersehnte Nachfolger „Ku’damm 59“ (Buch: Annette Hess, Musik und Texte: Peter Plate, Ulf Leo Sommer und Joshua Lange) unter der Regie von Christoph Drewitz umjubelte Premiere in Berlin.
Das Musical „Ku’damm 59“ knüpft wie die Serie dort an, wo „Ku’damm 56“ endet: Die jugendlichen Schwestern entwickeln sich zu erwachsenen jungen Damen und werden unsanft in ihre gesellschaftlichen Rollen gezwängt. Celina dos Santos ist die neue Monika Schöllack am Ku’damm. Ohne Schwierigkeit zeichnet sie den komplexen Charakter der jungen Frau, die so gar nicht in das Rollenbild der Fünfzigerjahre passen möchte. Ihre Monika hat sich entwickelt und ist mittlerweile reifer und erwachsener geworden, aber auch zugleich bitter enttäuscht von der Welt um sie herum – einer Welt voller Lügen, Verstrickungen und Gewalt.
Dos Santos gelingt hier ohne Zweifel eine meisterliche Darstellung. Man nimmt ihr die junge Frau, die voller Herzblut für Emanzipation und Gleichberechtigung, für ihre Tochter und das Gute im Menschen kämpft, vollends ab. Schauspielerisch in einer perfekten Mischung aus Charme, Trotz und Realitätssinn, begeistert sie vor allem gesanglich, als es ihrer leicht rauchigen, rockigen, wuchtigen Stimme mühelos gelingt, auch die letzte Ecke im Theatersaal einzunehmen und zugleich bei den sanften Klaviertönen von „Marie läuft Amok“ eindrücklich zu berühren.
Monikas erneutes Aufeinandertreffen mit Joachim Franck (David Nádvornik) ist geprägt von tiefer Melancholie. Die Harmonie zwischen Nádvornik und Dos Santos im Zusammenspiel trägt sie hierbei durch das ganze Stück und den gemeinsamen Erinnerungen der beiden Liebenden, als diese zwar jederzeit ihr starkes Band verspürten, aber nicht zueinanderfinden konnten. Nádvornik interpretiert zum zweiten Mal ganz fantastisch und authentisch die Rolle des Fabrikbesitzers, der, gefangen in seiner Ehe mit Ninette (Elvin Karakurt), alles dafür tun möchte, endlich den Schatten seines grausamen Vaters hinter sich zu lassen und die Welt zu einer besseren zu machen.
Für Monikas jüngste Schwester Eva konnte erneut Isabel Waltsgott gewonnen werden. Ein wahrer Glücksfall für die Darstellerin, eine neue Seite der Schöllack-Schwester zu entdecken und somit die große Chance zu nutzen, einen Charakter spannend weiterzuentwickeln – etwas, das auch laut Regisseur Christoph Drewitz eine große Besonderheit ist. Denn wann hat man schon mal die Möglichkeit dazu, eine Rollengestaltung über mehrere Stücke fortzuführen? Die Evi von Isabel Waltsgott mausert sich in der Fortsetzung der Story zu einer starken Persönlichkeit, deren rosarote Welt als Professorengattin schmerzhaft verblasst. Waltsgotts Darstellung ist so präzise, dass sie das Publikum mehrmals zu Szenenapplaus führt, als ihre Eva traurig, verzweifelt und zugleich unfassbar mutig und kraftvoll letztendlich Fassbender (herrlich fies: Cusch Jung) verlässt und versucht, selbstbestimmt ein neues Leben zu beginnen. Hervorzuheben ist definitiv ihre gewaltige, sehr klangvolle Stimme und ihre beeindruckende Bühnenpräsenz, die sie vor allem am Ende des ersten Akts mit „Wenn die Schwalbe in den Himmel schaut“ ausleben kann. Der starke erste Teil hätte keinen gebührenderen Abschluss haben können und markiert, nicht nur für sie, eine eindeutige Zeitenwende in der Handlung.
Helga (Pamina Lenn) versucht krampfhaft, ihre heile Welt getreu nach dem Motto „Alles wird gut“ aufrechtzuerhalten, auch wenn diese immer mehr zu bröckeln beginnt. Das Geheimnis mit Dorli droht aufzufliegen und ihr Ehemann Wolfgang (sehr berührend und authentisch: Phillip Nowicki) outet sich offiziell vor ihr als homosexuell, in dem er seine Liebe Hans (äußerst charmant: Alexander Auler) mit ins heimische Wohnzimmer bringt. Bis dahin konnte Helga stets die „Gefahr“ verdrängen. Doch als die „Bedrohung“ in Gestalt eines sympathischen jungen Mannes plötzlich real vor ihr steht, dreht sie überfordert durch. Die Nummer „1!2!3!“ ist der spannende Nervenzusammenbruch Helgas, ja, beinahe ein Fiebertraum, in dem jegliches Rollenbild komplett durcheinandergewirbelt wird. Lenns Darstellung ist stark und beeindruckend punktgenau. Mit ihrer fantastischen Stimme interpretiert sie Helgas Schmerz eindrücklich und intensiv, ja, sie schreit deren Verzweiflung beinahe heraus. „Willkommen im Erwachsensein“ und die dazugehörige Reprise sind ihre dramatische Realität, und man mag sich fragen, ob es wirklich so ist, dass wir uns alle nur selbst belügen und etwas vormachen.
Auch Mutti Caterina Schöllack (Katja Uhlig) muss der Wirklichkeit ins Auge sehen und ihren Kükenhaufen ziehen lassen, was sich auch darin zeigt, dass es sehr viel weniger gemeinsame Szenen der Schöllack-Frauen gibt. Uhlig zeichnet wunderbar feingliedrig den schmalen Grat zwischen der Chance für Caterina, dank Monika und Freddy Karriere machen zu können und zugleich dem schmerzhaften Loslassen der Mutterrolle auf der schwierigen Suche nach sich selbst. Am Filmset trifft ihre Protagonistin voller Bewunderung auf die frühere Nazi-Regisseurin Christa Moser (Steffi Irmen): Äußerst spannend, die dunkle NS-Vergangenheit in die Songs zu legen, so dass Caterinas und Christa Mosers Duett „Speer und Riefenstahl“ zu einem der Höhepunkte des Abends wird. Auch nicht verwunderlich, wenn zwei so charakterstarke Darstellerinnen und gesangliche Powerfrauen aufeinandertreffen. Ein wahrhaft explosives und zugleich bitter schmerzendes Feuerwerk.
Gegensätzlich zur Serienvorlage ist die renommierte und von Caterina angebetete Filmregisseurin Moser in der Bühnenversion eine Frau. Dies erforderte ein Umschreiben des Buches und bringt somit neue Ansätze und Haltungen in die Storyline. Ein spannender Switch, der keinesfalls an den Haaren herbeigezogen wirkt. Dies liegt nicht zuletzt an Steffi Irmen selbst, die der Grund für diese Handlungsänderung war, da die Macher sie unbedingt im Stück verorten wollten. Ohne Zweifel steht ihr die „Rampensau“ außerordentlich gut. Christa Moser ist eine von sich selbst überzeugte, knallharte, fast schon unangenehme Filmregisseurin, deren beste Jahre im Filmgeschäft unter dem Nazi-Regime notgedrungen ihr Ende fanden. Da bleibt ihr nichts anderes übrig, als Heimatfilme vom Wolfgangsee zu drehen, die Darstellerinnen und Darsteller sowie Publikum zu guter Laune zwingen. Ihr großes Solo „Showbetrieb“ ist wahrlich eine große Show.
Diese vermeintlich heile Filmwelt ist für Freddy Donath wie eine Zwangsjacke, in die er gepresst wird und in der er zu ersticken droht. Mathias Reiser gelingt die Darstellung des kleinen Spaßvogels, den er in der rosaroten Welt spielen muss, während ihn die Erinnerungen an die KZ-Zeit sowie den Verlust seiner Familie beinahe zu zerreißen scheinen, mitfühlend und intensiv. Voller Inbrunst legt er alle Emotionen in die spannende Veränderung des „Gitarren-Hallodri“, der stets „Annika, Erika oder Gisela“ mit nach Hause nahm und die wahren Gefühle nicht an sich heranließ. Am Ende kann Freddy Monika dankbar sein, dass sie alle unbequemen Wahrheiten ans Licht bringt, sich beide aus den Fesseln des faken Filmgeschäftes befreien und das tun, was sie am liebsten tun: Tanzen.
Wie auch schon in der Vorgängerversion erfordern Regieführung und Storyline hohe Konzentration, da viele Entwicklungsstränge der jeweiligen Charaktere parallel laufen und musikalische Nummern immer wieder durch verschiedene Handlungsansätze der einzelnen Protagonistinnen und Protagonisten unterbrochen werden. Im Ablauf wird schnell deutlich, dass „Ku’damm 59“ vor allem eines ist: Ein Musical der starken Bühnenmomente, die sich wie ein Feuerwerk fast nahtlos aneinanderreihen und dennoch aufgrund ihrer Tiefe und Intensität nicht zuletzt dank des fantastischen Einsatzes von Bühnenbild (Katrin Nottrodt), Sound (Florentin Adolf) und Licht (Tim Deiling) für sich allein stehen. Besonders bleibt hier der Lichtstreifen in der berührenden Nummer „Zwischen Ost und West“ in Erinnerung, der auf dem Bühnen-Boden verschwindet, als Wolfgang und Hans Liebknechts Liebe jede Grenze überwindet. Eine ganz wunderbare, gefühlvolle Szene zwischen Nowicki und Auler, die hier ihren richtigen Raum findet und eindeutigen Szenenapplaus erhält.
Das Set-Design entstammt Nottrodts Grundidee, einen dunklen, nackten, von Gebrauchsspuren übersäten Theaterraum zu gestalten, der vor allem im ersten Akt als Filmstudio präsent ist und durch fahrbare Wände, Requisiten und historische Möbel vervollständigt und erweitert wird. Somit wird die Tanzbar der „Monikas“ sichtbar, Evas kleine Wohnung, in der sie später ihre Freier empfängt, die Tanzschule Schöllack oder die Waffenfabrik des alten, mittlerweile verstorbenen Franck Senior. Das Filmstudio wurde passgenau auf die Heimatfilm-Ästhetik der Fünfzigerjahre zugeschnitten: Hier sorgen malerische Berge auf Leinwänden sowie eine Schwingschaukel für das perfekte Heile-Welt-Gefühl. Sehr unterhaltsam, immer mit der richtigen Prise Ironie und messerscharfem Sarkasmus und doch hätte man der Filmszenerie vielleicht etwas weniger Raum geben können, wirkt sie doch recht dominant.
Auch die Kostümgestaltung (Esther Bialas) wurde mit der Fortführung der Handlung entwickelt und verändert: Hat man sich vielleicht zunächst die typischen Outfits der „Fräuleins“ und die stampfenden, schwarzen Stiefel erhofft, demonstriert sich der Umbruch zu den „Sixties“ auch in den Kostümen: So sind die Schöllack-Damen farblich auffallender, emanzipierter, fraulicher und figurbetonter unterwegs, das Ensemble zeigt sich zurückhaltender, sportlicher, moderner.
Die kreativen Choreografien von Jonathan Huor erweisen sich als wahre Hingucker. Er hat es geschafft, neben der zeitgemäßen Ebene des Jahres 1959 auch eine Traumebene zu gestalten – eine Ebene, in der die einzelnen Charaktere der Realität entfliehen und sich in dem wiederfinden, was sie sich wünschen oder wovor sie sich fürchten. Laut Huor wollte er hier keine lauwarme Temperatur kreieren. Für ihn gab es nur heiß oder kalt, daher eine beschleunigte Achterbahnfahrt der Gefühle. Das Ensemble unterstützt die Szenerie hervorragend und wird oftmals durch die Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller komplettiert, so dass die gesamte Cast auf der Bühne zu sehen ist.
Die Band unter der Leitung von Shay Cohen findet seitlich auf der Bühne ihren Platz und ist während des Geschehens stets sichtbar involviert. Die musikalische Gestaltung führt von rockig-poppigen bis hin zu operettenhaften Klängen und wird von „The Monikas“ swingend und schmissig, aber auch berührend in den zarten Tönen auf den Punkt genau vertont. Die musikalischen Arrangements in Verbindung mit den cleveren, nachdrücklichen Liedtexten voller Metaphern sorgen für dafür, dass wirklich jede Nummer oder wiederkehrende Reprise auf eine ganz besondere Art und Weise für sich steht und keines der Lieder auch nur Gefahr läuft, irgendwie dahinzuplätschern.
Nach zwei starken Akten bleibt vor allem ein Gedanke: „Ku’damm 59“ unter der Regie von Christoph Drewitz ist erneut ein mutiges Musical über die starken Frauen, deren Kampf um Gleichberechtigung und die Emanzipation der späten Fünfzigerjahre letztendlich unsere Freiheit von heute hierzulande ebneten. In einer komplexen Spannbreite an Gefühlen berührt, unterhält und schockiert es zugleich und widmet sich den Themen Aufbegehren, Freiheit und Liebe, den Glauben an das Gute im Menschen und den Versuch, die Welt ein Stück erträglicher zu machen. Es ist das „Haus in der Liebmichallee“, von dem Monika träumt, von einer Gesellschaft, in der alle gemeinsam Platz haben.
Im Theater des Westens wird eine neue Ära eingeläutet, und das altehrwürdige Haus ist endlich wieder das, was es verdient hat zu sein: Der strahlende Mittelpunkt der Berliner Musicalszene. Peter Plate, Ulf Leo Sommer und Annette Hess gelingt es abermals, etwas Frisches und Neues zu kreieren, mutig über Grenzen zu gehen, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, Unbequemes anzusprechen und gleichzeitig sich selbst treu zu bleiben. Nun muss das Baby raus in die Welt. Oder, um es mit ihren Worten zu sagen: „’Ku’damm 59′ braucht jetzt die Zeit, um von den Darstellerinnen und Darstellern gelebt und geformt werden.“ Zu dem, was es dann mit Sicherheit sein wird: Ein neues Musical der Extraklasse für Berlin.
Text: Katharina Karsunke