„Ku'damm 56“ (Foto: Jörn Hartmann - Dominik Ernst)
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Schmerzhaft brillant: „Ku‘damm 56“ in Berlin

Der Ku‘damm wird zum Musical – so steht es in großen Lettern überall geschrieben. Der Ku’damm, Berlins pulsierende City West mit traditionsreicher Vergangenheit. Kaum ein Ort würde sich besser eignen, um die Geschichte rund um die Familie Schöllack und die Tanzschule Galant in den 1950er Jahren zu erzählen. Was bereits zum TV-Erfolg wurde, fand nun als „Ku’damm 56 – Das Musical“ mit einjähriger Corona-Verspätung endlich den Weg auf die Bühne des Theaters des Westens.

Schnell wird deutlich, dass die Macher des Stückes, Peter Plate und Ulf Leo Sommer (Produktion, Musik und Liedtexte) in der Zusammenarbeit mit Annette Hess, (Libretto) ihrem Motto treu geblieben sind, kein kitschiges „Grease-Musical“ entstehen zu lassen, in dem ausschließlich glitzernde Petticoats durch die Lüfte wirbeln. Im Gegenteil: Unter der Regie von Christoph Drewitz wurde eine Thematik entfaltet und eine Inszenierung geboren, die von den Irrungen und Wirrungen der Nachkriegszeit im Berlin der 1950er Jahre erzählt und diese authentisch auferstehen lässt. Eine zertrümmerte und im Anschluss geteilte Stadt, entzweite Familien, eine todgeschwiegene Vergangenheit und dazu ein Rollenbild von Mann und Frau, das dem Zuschauer der Gegenwart einen Schauer über den Rücken jagen lässt. All dies bildet den Rahmen um Caterina Schöllack und ihre drei Töchter Helga, Eva und das vermeintlich schwarze Schaf der Familie: Monika.

„Monika!“ ist auch die extrem starke, donnernde Eröffnungsnummer, mit der das Ensemble die Zuschauer, ohne nur eine Minute zu verlieren, in seinen Bann zieht. Auf den ersten Blick wird hier sichtbar, dass es sich bei Monika um eine junge Frau handelt, die anscheinend nicht ins Bild der damaligen Gesellschaft passt und somit von allen Seiten Demütigung erfahren muss. Sandra Leitner schafft es in ihrer Interpretation der Rolle äußerst präzise, einen Charakter entstehen zu lassen, dem man ohne Umschweife anmerkt, dass er sich am liebsten in Luft auflösen möchte. Glaubhaft sorgt sie in ihrer Körpersprache und im Ausdruck dafür, dass Monika mit ihren heiratsfähigen Schwestern nicht mithalten kann. Doch dank Leitners fantastischer Darstellung sowohl stimmlich als auch durch ihre großartige Bühnenpräsenz, kann erahnt werden, welche innere Stärke Monika in sich tragen muss, auch wenn es am Anfang lange nicht danach aussieht.

Bereits in den ersten Szenen schließt man die drei Schöllack-Schwestern ins Herz. Hier ist einmal Helga, die am Abend vor ihrer Hochzeit steht und von einem glücklichen Ehe- und Familienleben träumt. Tamara Pascual verleiht ihrem Charakter die nötige Tiefe und zugleich seichte Naivität, in der Hoffnung, dass Helgas Leben sich so erfüllt, wie sie es sich ausmalt. Im wunderschönen, klangvollen Mezzosopran gelingt es ihr, den Zuschauer auf ihre Seite zu ziehen und durchaus schmunzeln zu lassen, wenn ihr in „Alles wird gut“ das Kartenhaus der glücklichen Familie schmerzhaft droht, zusammenzubrechen. Es ist ein Glück, das in ihrer Ehe aufgrund der Homosexualität ihres Mannes Wolfgang keinen Bestand hat.

Helga gegenüber steht Wirbelwind Eva (Isabel Waltsgott), liebevoll Evi genannt, die sich wie ihre große Schwester in den Hafen der Ehe und nach der Sicherheit einer starken Schulter sehnt. Scheinbar hat sie diese in ihrem Chef, Professor Dr. Fassbender (Holger Hauer), einem Nervenarzt in der Psychiatrie für Frauen, gefunden. Amüsant spielen sich Waltsgott und Hauer bei ihren Annäherungsversuchen die Bälle zu, als Eva gutgläubig, aber durch die Bank liebenswert, versucht, bei ihm Eindruck zu schinden. „Das kann nur die Rumba“ bildet einen frühen musikalischen Höhepunkt, als die drei Schwestern gemeinsam heimlich im Aufklärungsbuch ihrer Mutter lesen und vor allem Waltsgott bereits hier ihr stimmliches Talent entfaltet und zeigt, dass sie neben ihrer zarten Erscheinung eine enorme Bühnenpräsenz besitzt.

Für „Mutti“ Caterina Schöllack (Katja Uhlig) ist der jugendliche Leichtsinn ihrer Töchter und das Versagen von Monika nur schwer zu ertragen. Für sie liegt es in der Natur des Menschen, dass sich die Frau dem Mann unterzuordnen hat und keinerlei Freiheiten oder Bedürfnisse genießt. Doch was nach außen so hart, unnahbar und äußerst kontrolliert erscheint, zeugt von innerer, tiefer Traurigkeit und purer Verzweiflung. Auch wenn ein wenig die äußerliche Reife noch fehlen mag, besticht Uhlig doch von der ersten Minute an mit durchdringender, auch in den hohen Tönen äußerst souveräner Stimme und einer Ausstrahlung, die so manch einem die Knie weich werden lässt. Ihr gelingt die vielschichtige Rolle der Caterina authentisch und transparent, wenn auch man sich relativ lange an Mutter Schöllacks „menschliche“ Seite herantasten muss.

Lediglich in kurzen, unbeobachteten Momenten verlässt sie die Contenance. Zu stark ist sie von der Angst besetzt, die Kontrolle zu verlieren, sei es in der Tanzschule, in die immer mehr amerikanische Musikklänge Zugang finden, oder in den privaten vier Wänden. Die Kriegserfahrungen und das Verlassenwerden durch ihren Mann Gerd (Marco Billep), haben sie verbittert gemacht. Selbst Assmann (Thorsten Tinney), Tanzlehrer bei den Schöllacks und heimlicher Liebhaber von Caterina, schafft es nicht, dass sie sich letztendlich zu ihm bekennt. Erst als Monika sich aus eigener Kraft dazu entschließt, ihren eigenen Weg zu gehen, finden Mutter und Tochter zueinander. Es ist der Moment, in dem auch Katja Uhlig alle Anspannung von sich wirft.

„Ku'damm 56“ (Foto: Jörn Hartmann - Dominik Ernst)

Auch wenn bei „Ku‘damm 56“ heimlich die starken Frauenrollen im Mittelpunkt stehen, kann sich die Herrenriege an ihrer Seite durchaus sehen lassen. Bei Wolfgang van Boost (Dennis Hupka), Helgas Ehemann, merkt der Zuschauer recht schnell, dass hier etwas „anders“ ist. Etwas, das in der damaligen Zeit ein großes Problem darstellte. Wolfgang liebt Männer, wird als abartig und krank bezeichnet und kann seiner Ehefrau Helga auf der Gefühlsebene nicht das geben, was sie sich von ihm erhofft. Dennis Hupka ist sowohl in seiner Gestaltung als auch stimmlich prädestiniert für die Rolle des Wolfgang. Sehr liebevoll interpretiert er „Ein besserer Mensch“, gezeichnet von Verzweiflung und der Hoffnung auf Flucht aus dem traditionellen Rollenbild, welches ihn zu ersticken droht.

Im Gegensatz zu ihm, taucht Joachim Frank (David Nádvornik) fast unbemerkt im Geschehen auf. Nádvornik sorgt authentisch dafür, dass sich Franks Charakter im Laufe des Stückes glaubhaft entfaltet. Obwohl  dieser durch das Vergehen unter Alkoholeinfluss an Monika sicher nicht die Sympathien auf seine Seite zieht, bringt auch hier eine vermeintlich undurchdringliche äußere Hülle einen verletzten Kern zum Vorschein. Frank ist gebremst in seinen Träumen und leidet maßgeblich unter einer katastrophalen Vater-Sohn-Beziehung. Bis er und Monika zueinanderfinden und sie sich letztendlich vor ihm behauptet, ist es noch ein langer steiniger Weg. Joachim Franks Vater (Rudi Reschke), Chef der Frank-Werke und tätig in der Rüstungsindustrie, hat eine eindeutige Meinung zum Leben und zu den Frauen. Eine Frau hatte in der damaligen Zeit nichts zu sagen. Die alten Herren der Gesellschaft sind überzeugt, sie habe sich „zügellos“ verhalten, sollte es zu einem unsittlichen Benehmen kommen. „Zügellos“ ist auch jene Stelle, die einem erneut das Blut in den Adern gefrieren lässt und man sich als Frau von heute nur eines wünscht: Aufstehen und schreien!

Als Monika Freddy (David Jakobs), Musiker bei Galant, kennen lernt und sie eine Affäre beginnen, dreht sich ihr Leben um 180 Grad. Dank ihm findet sie durch den Nachtclub „Mutter Brause“ im Tanz und Rock‘n‘Roll einen Ort zum Ankommen. Hier verändert sich alles und Sandra Leitner schafft es, ihrem Charakter die graue Schale abzustreifen und endlich im Licht glänzen zu lassen. Jakobs gelingt der ungestüme, freiheitsliebende Künstler Freddy, der seine eigene, schmerzliche KZ-Vergangenheit zu verdrängen versucht, von der ersten Sekunde an. Heimlich hält er die Fäden des Stückes in der Hand und sorgt mit „Berlin, Berlin“ für einen weiteren Höhepunkt in der rasanten Achterbahnfahrt des Abends. Auch wird das Publikum mit genau diesem Ohrwurm am Ende in die Stadt entlassen, die Stadt, die sich vor den Türen des Theaters mit all ihren Freuden und Sorgen erstreckt.

Das Stück lebt vom Zusammenspiel der großen Anzahl vielschichtiger Charaktere. Hier besteht die Herausforderung darin, jeder Rolle ihre nötige Tiefe zu geben und niemanden blass aussehen zu lassen. Auch können Zuschauerinnen und Zuschauer Gefahr laufen, in den ganzen Verstrickungen den Anschluss zu verlieren – gerade, wenn man mit dem Stoff der Serie nicht vertraut ist. Ein hohes Tempo, mitreißende und sehr ausdrucksstarke Choreografien (Jonathan Huor) sowie schnelle, teils harte Übergänge erfordern Konzentration und ermöglichen das Eintauchen in eine Welt, die einen herzlich lachen, aber auch manchmal das Blut in den Adern gefrieren lässt. Es ist wie ein Sog, in dem man für ein paar Stunden gefangen bleibt.

Auch das Bühnenbild und die Kostüme (Andrew D. Edwards) lassen kein kitschiges Tanzmusical erwarten. Die grauen Wände sind von den Narben der Zeit durchzogen, und lediglich die großen Kronleuchter bringen ein wenig Edel und Glanz ins Galant, Licht (Tim Deiling) und Ton (Cedric Beatty) unterstreichen dies gekonnt. Eine zweite Spielebene im Bühnenbild sowie eine fahrbare dynamische Spiegeldecke, die präzise zum Einsatz kommt, vervollständigen das Ganze. Die Band unter der Leitung von Caspar Hachfeld befindet sich durchgängig auf der Bühne, integriert in die Wohnung der Familie Schöllack, und wird somit Teil des Geschehens. Rockig und poppig, aber auch gespickt mit Operettenklängen sorgt sie mit den Songs von Peter Plate und Ulf Leo Sommer für einen Ohrwurm nach dem anderen und untermalt mit zeitweise harten Elementen die vielschichtige Thematik. „Ku’damm 56“ ist ein Musical, das ohne pompöses Bühnenbild und große Umbauten auskommt – und es ist dem gelungenen Schachzug der Regie von Christoph Drewitz zu verdanken, dass oftmals das ganze Ensemble in die Szenen involviert wird und dadurch Stück und Inszenierung so aussagekräftig werden. Somit besteht kein Zweifel, dass die Schicksale aller Protagonisten eng miteinander verwoben sind.

Was bleibt am Ende? Ein großartiger Stoff, reich an Gegensätzen, den Annette Hess, Peter Plate und Ulf Leo Sommer in ihrer Zusammenarbeit kreiert haben. Momente, die wehtun und die zum Nachdenken anregen. Lieder, die tief berühren, und Musik, die die Füße wippen lässt. Eine großartige Besetzung, die durchweg begeistert in der Liebe und Spielfreude zueinander, so dass diese sich letztendlich auf das Publikum übertragen.

„Ku‘damm 56“ ist ein Stück, in dem nicht das Tanzen und der Rock n Roll, wie man vermeintlich denken könnte, im Vordergrund stehen. Es geht um so viel mehr: Es ist die Geschichte über die Frauen einer Stadt, die ihr in all den schweren Jahren wieder ein Gesicht gegeben haben. Eine Aufbruchsgeneration im Kampf gegen die Vergangenheit und sichtbare Ungerechtigkeiten, in ihr eine junge Frau, die anscheinend nicht in das Bild der damaligen Gesellschaft passt. Es gelingt ihr, sich freizukämpfen. Durch das Tanzen, aber auch durch den Entschluss, mit ihrem ungeborenen Kind allein ein neues Leben zu beginnen, ganz egal, was alle um sie herum davon halten. Sie ist eine der wenigen, die es geschafft hat, frei zu sein. „Und wenn ich tanz’, tanz’ ich allein, fängt alles erst an, alles beginnt, nichts ist vorbei.“

Text: Katharina Karsunke

Katharina Karsunke ist Sozial- und Theaterpädagogin, hat jahrelang Theater gespielt, aber auch Kindertheaterstücke geschrieben und inszeniert. Ihre Liebe fürs Theater und ihre Leidenschaft fürs Schreiben kombiniert sie bei kulturfeder.de als Autorin.