Felix Martin (Foto: Dirk Hetzel, Dominik Lapp)
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Interview mit Felix Martin: „Wer sagt, er hat alles richtig gemacht, der hat aufgehört zu wachsen!“

Felix Martin gehört seit Jahrzehnten zu den prägenden Gesichtern der deutschsprachigen Musicalszene. Derzeit spielt er J. Bruce Ismay im Musical „Titanic“ bei den Freilichtspielen Tecklenburg und bereitet sich parallel auf seine nächste große Herausforderung vor: Bei der China-Tournee von „Mozart!“ wird er als Leopold Mozart zu sehen sein. Im Interview spricht der Musicaldarsteller über historische Figuren, das besondere Tecklenburg-Gefühl und seine allererste Rolle als Kind in Mozarts „Zauberflöte“.

Felix, du spielst J. Bruce Ismay in „Titanic“ in Tecklenburg. Wie bist du zu dieser Rolle gekommen und was hat dich daran besonders gereizt?
Ich habe einen Anruf bekommen von unserem Regisseur Ulrich Wiggers. Er fragte mich, ob ich Interesse hätte, die Rolle zu übernehmen. Ich habe mir dann das Buch angesehen und war zuerst ein bisschen skeptisch, wie viel man aus dieser Figur überhaupt herausholen kann. Schließlich ist „Titanic“ ein großes Ensemblestück, viele Charaktere, viele Schicksale. Aber je mehr ich mich mit Ismay beschäftigt habe, desto mehr habe ich gemerkt, wie spannend er ist – eine Schlüsselfigur mit einem inneren Konflikt. Er ist einer, der von Anfang an unter Druck steht. Der Schatten des Vaters ist riesig, überall heißt es: „Ach, Ihr Vater war das. Wenn der noch leben würde!“ Und Ismay versucht, aus genau diesem Schatten herauszutreten – mit einem gigantischen Projekt: der Titanic. Er will etwas erschaffen, das ihn unabhängig macht, eine Legende. Und diese Getriebenheit, dieser Ehrgeiz, der ihn letztlich auch in dieses Desaster treibt, fand ich sehr spannend zu spielen.

Ismay singt allerdings nicht sehr viel. Vermisst du das Singen?
Ehrlich gesagt: Anfangs ja. Ich habe fast abgesagt. Ich dachte mir: Was ist das denn für eine Rolle – kaum Musik! Aber mein Mann meinte zu mir, dass ich mir das Material noch mal genauer ansehen sollte. Und er hatte recht. Die Dialoge sind sehr stark, die Figur hat Tiefe, und das große Schuld-Terzett im zweiten Akt ist wahnsinnig intensiv. Da prallen der Kapitän, der Architekt und Ismay als Schiffseigner aufeinander, und jeder versucht, die Schuld dem anderen zuzuschieben. Es geht hoch und runter – das ist fast wie ein kleines Kammerspiel.

Wie erlebst du die Atmosphäre in Tecklenburg – auf und hinter der Bühne?
Ich bin das erste Mal wirklich hier, hatte vor vielen Jahren nur mal eine Gala. Und ich muss sagen: Ich bin begeistert. Die Bühne, die Stadt – es ist alles sehr charmant, aber auch intensiv. Die Probenzeit ist komprimiert, man muss gut vorbereitet kommen. Dafür entsteht aber auch ein besonderes Miteinander. Ich fühle mich hier sehr wohl, bin auch vom Ensemble und dem Team unglaublich herzlich aufgenommen worden. Und ich kann mich in der Arbeit frei entfalten, das ist nicht selbstverständlich. Was mich auch sehr freut: Die vielen jungen, begabten Darstellerinnen und Darsteller, die hier auf der Bühne stehen. Man merkt, da kommt eine neue Generation, die mit Leidenschaft und Neugier dabei ist. Das gibt Hoffnung.

Nach Ismay kommt mit Leopold Mozart in „Mozart!“ eine weitere historische Figur auf dich zu. Du warst ja 2001/2002 in Hamburg schon als Colloredo dabei – was bedeutet dir dieses Stück?
„Mozart!“ ist ein Meisterwerk. Michael Kunze und Sylvester Levay haben da etwas ganz Besonderes geschaffen – ein historisches Thema, aber mit einer modernen Sprache und musikalischen Kraft. Ich liebe diese Musik, ich singe auch oft „Gold von den Sternen“ in meinen Konzerten. Viele Menschen kennen das Stück gar nicht so genau, gerade im deutschsprachigen Raum. In Asien ist es riesig, da wird es ganz anders wahrgenommen. Die Figur des Leopold ist für mich eine neue Herausforderung. Er liebt seinen Sohn und ist gleichzeitig so übergriffig, weil er all seine eigenen enttäuschten Hoffnungen auf ihn projiziert. Das ist hochaktuell. Diese Vater-Sohn-Dynamik, dieses Missverständnis, diese Liebe, die sich nicht ausdrücken kann – das ist ein zeitloses Drama.

Siehst du Leopold wie Colloredo als Antagonisten?
Nicht in dem Sinne. Colloredo ist wirklich ein Gegner, der Mozart nicht versteht und sich über ihn erhoben fühlt. Leopold dagegen liebt seinen Sohn, aber er kann ihn nicht greifen. Das macht es tragisch. Er will ihn kontrollieren, hält ihn fest – und genau das zerstört ihre Beziehung. Aber es ist nie bösartig. Er scheitert an seinem eigenen Anspruch und Lebensfrust. Diese Konstellation ist so stark, weil sie menschlich ist. So viele Eltern-Kind-Beziehungen funktionieren über Missverständnisse, unerfüllte Erwartungen, Sprachlosigkeit. Und oft kommt die Versöhnung zu spät. In „Mozart!“ bleibt sie aus – aber gerade das macht es so bewegend.

Du wirst mit „Mozart!“ erstmals in China auftreten. Ein Abenteuer?
Absolut! Viele Kolleginnen und Kollegen haben mir erzählt, wie unglaublich das dort ist. Das Publikum ist offen, neugierig – und die Produktion ist hochwertig. Es wird eine halbszenische Inszenierung wie die Tour von „Elisabeth. Ich freue mich sehr auf diese Reise, auf das Team – und darauf, das Stück neu zu entdecken.

Felix Martin (Foto: Dominik Lapp)

Wenn wir über das Musical „Mozart!“ sprechen, müssen wir auch über den Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart und somit über deine Anfänge reden. Denn du hast ja bereits als Kind einen der drei Knaben in der „Zauberflöte“ gesungen. War das der Beginn deiner Bühnenleidenschaft?
Ja, das war meine erste Rolle, damals in der Hamburger Staatsoper. Ich war zwölf, ein Freund von mir war totaler Opernfan und hat mich mitgeschleppt. Ich bin einfach mitgegangen, habe etwas vorgesungen – und wurde genommen. Dann stand ich auf dieser riesigen Bühne, bin bei „Bald prangt, den Morgen zu verkünden“ mit einer Gondel eingeflogen worden – das war magisch! Ich war fasziniert von der Königin der Nacht, habe zu Hause alle Rollen durchgespielt und gehofft, die Königin fällt mal aus, damit ich einspringen kann. (lacht) Nach dem Stimmbruch war es dann natürlich vorbei mit den Knabenrollen. Aber die Liebe zur Bühne ist geblieben. Ich habe erst Schauspiel am Max Reinhardt Seminar in Wien studiert, dann über Sommerkurse das Musical entdeckt und gemerkt, dass das mein Weg ist. Schauspiel, Gesang, Bewegung – alles in einem. Das war’s.

Wenn du auf deine bisherige Karriere zurückblickst: Was motiviert dich, weiterzumachen, immer wieder neue Rollen zu spielen?
Ich glaube, es sind die Figuren. Ich will Menschen spielen, die ringen, die scheitern, die träumen. Die etwas wollen – und nicht kriegen. Oder etwas bekommen – und damit nicht umgehen können. Solche Figuren interessieren mich. Und die Bühne ist für mich immer noch ein Ort, an dem man solche Geschichten erzählen kann. Solange ich das spüre, mache ich weiter. Die Bühne ist mein Lebenselixier. Wenn ich da oben stehe, mit Musik, mit Text, mit einer Figur – dann fließt etwas in mir, das ist wie ein Strom, der mich trägt. Und das kann wahnsinnig beglückend sein. Natürlich gibt es auch andere Phasen, man kennt das ja: Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt. Aber insgesamt war es bei mir doch eher jauchzend. Ich habe über die Jahre versucht, mir die Lust an diesem Beruf zu bewahren. Ein Schlüssel dafür war: Ich habe nicht alles angenommen. Nur weil etwas ein Job ist, heißt das nicht, dass ich es auch machen muss. Klar, das kann man sich nicht immer leisten. Aber ich habe versucht, so oft es geht, Entscheidungen aus Überzeugung zu treffen. Was ich auch sehr liebe, ist die Flexibilität in unserem Beruf. Ich war in Wien, Stuttgart, Hamburg, Berlin – das sind Erfahrungen, die ich nicht missen möchte. Und trotzdem weiß ich, wo mein Zuhause ist. Ich bin geerdet. Aber ich liebe diesen Beruf – mit allem, was dazugehört.

Gibt es Dinge, die dich an der Branche stören? Du klingst da sehr reflektiert.
Ja, da gibt es einiges. Zum Beispiel die Kommunikation. Ich finde, es sollte selbstverständlich sein, im Vorfeld klar zu sagen, wie der Stand der Dinge ist. Da fehlt es an Theatern manchmal an Transparenz – trotz all der schönen Plakate mit Schlagwörtern wie Vielfalt, Respekt oder Gleichberechtigung. Theater lebt von Reibung, ja. Aber wenn, dann bitte im kreativen Sinne. Es muss um das Stück gehen, um die Rolle, um die Aufführung. Nicht um Eitelkeiten oder Machtspielchen. Und wir sollten generell viel stolzer auf unser Genre sein – und es nicht selbst kleinreden.

Also mehr Selbstbewusstsein für das Genre Musical?
Absolut. Wir sollten als Musical-Community offen sein – für neue Stoffe, neue Menschen, neue Formen. Und gleichzeitig sollten wir unser Handwerk, unsere Historie und unser Niveau verteidigen. Musical ist ein großartiges Format, in dem alles zusammenkommt: Gesang, Schauspiel, Tanz, Live-Musik, Emotion. Ich finde, im Musical wird oft sehr viel mehr Vielfalt gelebt als in manch anderem Theaterbereich.

Was wünschst du dir für die Zukunft des Genres?
Ich sehe durchaus positive Entwicklungen. Immer mehr junge Menschen entdecken Musicals – in Schulen, in Amateurgruppen, auf Social Media. Das gab es früher so nicht. Ich wünsche mir, dass wir in der Branche offen sind, weniger in alten Strukturen denken – und vor allem: Dass wir mehr Uraufführungen fördern. Neue Stücke, neue Themen, neue Perspektiven. Das passiert bereits, aber da geht noch mehr. Wir brauchen keine Schubladen. Wir sollten Trennungen zwischen Komödie und Tragödie aufbrechen und auch das Publikum mitnehmen auf neue Wege.

Wenn du heute dem zwölfjährigen Felix, der damals in der „Zauberflöte“ auf der Bühne stand, etwas mitgeben könntest: Was würdest du ihm sagen?
Mehr Mut. Mehr Selbstvertrauen. Ich war früher sehr neugierig, aber gleichzeitig auch sehr zurückhaltend. Ich wollte niemandem auf die Nerven gehen, habe mich nicht getraut, Fragen zu stellen. Ich hatte früh Erfolge, stand mit 20 Jahren schon als Elvis auf der Bühne, mit 23 als Marius in „Les Misérables“. Aber ich war oft zu brav. Heute würde ich sagen: Trau dich mehr. Du darfst neugierig sein, du darfst auch mal fordern, du darfst an dich glauben.

Setzt du das denn heutzutage in die Tat um?
Ich arbeite immer noch daran. Und ich finde: Wer sagt, er hat alles richtig gemacht, der hat aufgehört zu wachsen! Theater ist ein ständiger Prozess. Jede Vorstellung ist anders. Das Publikum ist anders. Die Energie auf der Bühne ist anders. Manchmal entsteht Magie, manchmal ist Sand im Getriebe – das gehört dazu. Und ich glaube fest daran: Das Publikum spürt, ob da jemand mit dem ganzen Herzen auf der Bühne steht oder nur eine weitere Vorstellung spielt. Deswegen versuche ich immer, ganz da zu sein, in jeder Rolle, in jedem Moment.

Interview: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".