Weihnachten liegt in der Luft: „Eine Weihnachtsgeschichte“ in Berlin
Schneeflocken, Glühweinduft, glitzernde Lichter – in Berlin weihnachtet es bereits, wenn auch bislang hauptsächlich im Bluemax Theater am Potsdamer Platz. Nach über 20 Jahren hat hier die „Blue Man Group“ ihr Stammhaus verlassen und das Theater begibt sich auf den Weg, ein Zuhause für kommende Tourproduktionen zu werden. Längst überfällig, könnte man meinen. Den Anfang macht „Eine Weihnachtsgeschichte“ – das Musical, das auf dem gleichnamigen Filmklassiker aus dem Jahr 1984 sowie der Erzählung von Charles Dickens basiert. Bereits letztes Jahr tourte das Stück (Musik und Songtexte: Michael Schanze, Buch und Songtexte: Christian Berg) unter der Regie von Christoph Weyers durch Deutschland und versprach ein zauberhaftes Musicalmärchen für Groß und Klein. Ob das auch in diesem Jahr gelungen ist?
Beim Betreten des Saals sticht als erstes das charmante, an ein Puppenhaus erinnernde Bühnenbild von Weyers ins Auge. Bis ins kleinste Detail wurde alles liebevoll gestaltet: Die Häuser des viktorianischen Londons, die doch ein wenig an die zauberhafte Welt von Mary Poppins erinnern und in denen gemütlich das Licht brennt, die nächtlichen Dächer der Stadt, die im Schnee funkeln und glitzern, einzelne kleine Marktstände, Hauseingänge und im Hintergrund Londons Gassen, gelungen an die Wand projiziert (Video: Petr Hlousek). Ebenfalls unverkennbar: die über alles ragende Silhouette des Big Ben, dessen Glocken während der Show mehrmals im Originalton zu schlagen beginnen.
In dieser puppenhausähnlichen Umgebung findet sich das Kontor des Geschäftsmanns Ebenezer Scrooge (Holger Hauer); ein alter, verschrobener, gehässiger Geizkragen, der seinen Angestellten Bob Cratchit (Michael Gugel) bis aufs Äußerste ausnutzt und degradiert, in dem Wissen, dass dieser auf das wenige Geld, das er hier verdient, angewiesen ist. Zudem bezeichnet Scrooge Weihnachten generell als kompletten Humbug und schlägt wieder einmal das Familienessen bei seinem Neffen (Janik Oelsch als Alfred) aus, der ihn trotzdem unermüdlich Jahr für Jahr dazu einlädt. Holger Hauer kreiert einen umwerfenden, kaltherzigen Geizkragen, den man aufgrund seiner boshaften und spöttischen Äußerungen einfach nur schütteln möchte. Cratchit brüskiert er, dessen körperlich beeinträchtigen Sohn Tiny Timm (Esther Konzett) bezeichnet er als Krüppel und die beiden Sammlerinnen für das Armenhaus Mrs Quitt und Mrs Quatt (großartig amüsantes Duo: Linda Rietdorff und Samantha Skopiak) wirft er quasi aus seinem Kontor und verweigert ihnen jegliche Spende für die Armen und Kranken der Stadt.
Doch Scrooges Verhalten äußert sich mehr und mehr in einer Maske, die zu bröckeln beginnt, als er in der Weihnachtsnacht Besuch von dem Geist seines mittlerweile verstorbenen Geschäftspartners Jacob Marley erhält, der ihm, in Ketten gelegt, die Konsequenzen des geizigen Lebensstils vor Augen führt. Jacob Marley wird ganz wunderbar dargestellt von Claudio Maniscalo, der schauspielerisch und mit einer Gesangsstimme, die aufhorchen lässt, mühelos überzeugt. Denn Marley hat für Scrooge eine ganz klare Botschaft inne: Wenn Scrooge nicht etwas an seinem Leben und seiner Einstellung zu seinen Mitmenschen schleunigst verändert, wird es ihm eines Tages genauso ergehen! Gleichzeitig kündigt er den Besuch von drei Geistern an, die ihn in die vergangene, gegenwärtige und zukünftige Weihnacht führen mögen. Wird Scrooge sich seines Handelns und dessen Auswirkungen bewusst werden?
Der Geist der vergangenen Weihnacht (Linda Rietdorff) nimmt Scrooge mit auf eine Reise zu seinem früheren Ich und verdeutlicht ihm Szenen, die er nicht mehr sehen wollte – und Gefühle, die er am liebsten nie wieder gefühlt hätte. Rietdorffs Geist ist ein bisschen verrückt, verstrahlt und zugleich sehr warmherzig. Sie singt, tanzt und steppt sich mit der richtigen Prise Komik und einer ordentlichen Portion ausdrucksstarker Bühnenpräsenz in der glitzernden Shownummer „Durchgeknallt“ in die Herzen des Publikums. Liebevoll nimmt sie Scrooge mit an die Hand und begleitet ihn durch seine Vergangenheit, die deutlich werden lässt, dass die großen Risse in seinem Leben bereits auf diese Zeit zurückzuführen sind. Die wunderbare Szene „Im Hause Fezziwig“ erinnert ihn an unbeschwerte Zeiten, als er in jungen Jahren (Junger Scrooge: Leander Bertholdt) seine große Liebe Bella (Henrike Stark) traf – und die ihn doch langsam, aber sicher zu dem kaltherzigen Menschen werden ließen, der er heute ist.

Um zwei Uhr nachts beehrt ihn der Geist der gegenwärtigen Weihnacht (Leander Bertholdt) und führt ihm das traute Leben der Familie seines Angestellten Bob Cratchit (Michael Gugel) vor Augen. Michael Gugels Cratchit ist ein warmherziger Familienvater, der trotz aller Sorgen um seinen kranken Sohn Tiny Timm (Esther Konzett) und die ärmlichen Verhältnisse, in denen seine Liebsten leben müssen, stets das Gute in den Menschen sieht – nicht zuletzt in seinem geizigen, verbohrten Vorgesetzten. Gemeinsam mit seiner Frau (Lena Ponge) schafft er einen Rahmen, der Barmherzigkeit und Nächstenliebe zurück an den Tisch holt – egal, wie viel oder wenig Geld man besitzt. Dies wird auch Scrooge mehr als deutlich vor Augen geführt, als er die Szenerie beobachtet und bemerkt, dass sich im Leben nicht alles um Geld und Macht dreht. Esther Konzett lässt mit klangvoller Stimme aufhorchen, als Tiny Tims Song „Ein Stern“ als glitzerndes Finale den ersten Akt schließt – ein bisschen zu kitschig und rührig, vielleicht. Aber wenn etwas kitschig sein darf, ist es schließlich Weihnachten.
Mit dem Geist der zukünftigen Weihnacht (Samantha Skopiak) reist Scrooge an einen Friedhof und bemerkt gerade noch rechtzeitig, dass es sich hierbei um sein eigenes Grab handelt – ein Grab, an dem keiner trauert, im Gegenteil: Die Menschen sind froh, dass der gehässige Scrooge nicht mehr unter den Lebenden weilt und sein Umfeld nicht mehr schikanieren und ausbeuten kann. Zudem ereilt ihn die schockierende Nachricht, dass auch Tiny Tim verstarb, weil seine Familie nicht genug Geld aufbringen konnte, um die hohen Arztrechnungen zu begleichen. Musste etwa der Kleine sein Leben lassen, weil Scrooge nicht bereit war, seinem Angestellten mehr Geld zu bezahlen? Diese Erkenntnis erwischt den alten Griesgram eiskalt und der Gedanke, dass niemand sein Ableben interessiert, macht ihm Angst und Bange. Schafft er es, sein eigenes Schicksal und das seiner Mitmenschen in letzter Minute zu drehen und zum Besseren zu verändern?
Unterstützt werden die Protagonistinnen und Protagonisten durch ein liebevolles, sehr homogenes Ensemble, in dem besonders Luis Miguel Homedes Lleó als Shoeshine Newsboy sowie Melina Hendel als leuchtende Straßenlaterne (und in einer Doppelrolle als Mrs Hawkins) hervorzuheben sind. Schade, dass sie beide in ihren Charakteren im ersten Akt ein wenig zu kurz kommen. Auch ist dem Buch geschuldet, dass der zweite und dritte Geist leider hinter dem ersten Geist verblassen, da sie eher unkenntlich und zeitweise stumm Scrooge auf seiner Reise geleiten. Die Choreografie von Natalie Holtom führt die Cast auf verschiedensten Ebenen gelungen zusammen. Die Kostüme von Thomas Dohm sind viktorianisch zeitgemäß und schmiegen sich in die Silhouette der Londoner Umgebung charmant ein. Scrooge als Geschäftsmann stets im Gehrock, mit Hut und Stock, unternimmt seine Zeitreisen nachts im Morgenmantel, mit Hausschuhen und Schlafmütze, was ihn doch gleich ein wenig sympathischer und menschlicher erscheinen lässt. Der Geist des Jacob Marley hingegen ist als graue, versteinerte, einschüchternde Figur in Ketten gelegt – eindringlich wird Scrooge vor Augen geführt, dass er so seine Tage nicht beenden möchte. Sound (Dennis Heise) und Licht (Oliver Ehmes) komplettieren das Gesamtpaket präzise an den richtigen Stellen, in dem auch immer wieder passenderweise der Schnee zu rieseln beginnt.
Die Musik aus der Feder von Michael Schanze wird nicht live präsentiert, sondern digital eingespielt, untermalt das Geschehen und die einzelnen Charaktere aber auf mehr als passende Art und Weise. Sie vereint Musical mit einer gehörigen Portion Kitsch und Schlagerelementen, die in einem Weihnachtsmärchen auch definitiv ihren Platz finden dürfen. Aufgrund der relativ langen Dialoge und großen Sprechpausen fehlt es dem Stück hier und da ein wenig an Tempo; zudem erscheint der zweite Akt etwas kurz. Hier hätte man vielleicht in Anlehnung an den Film noch eine weitere Ensemblenummer einbauen können, die der wunderbaren Cast eine weitere Ausdrucksmöglichkeit beschert hätte. Das Ende und Scrooges Erleuchtung ereilen das Publikum tatsächlich ein bisschen zu schnell.
Nach etwas mehr als zwei Stunden ist Ebenezer Scrooge um lebensverändernde Erfahrungen reicher und das Musical „Eine Weihnachtsgeschichte“ entlässt das Publikum in die noch nicht ganz so kalte Winternacht – aber mit dem Gedanken an die bevorstehende Weihnachtszeit und vielleicht dem Wunsch, dieses Jahr ganz besonders auf sich selbst und seine Mitmenschen zu achten.
Text: Katharina Karsunke