„Goethe!“ (Foto: Dominik Lapp)
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Blick in die Komponisten-Werkstatt: Wie Martin Lingnau sein Musical „Goethe!“ für Japan neu erfindet

Es ist einer dieser – in diesem Jahr spärlich gesäten – warmen Hamburger Nachmittage, an denen das Licht durch die Sonnenschirme fällt und das Stimmengewirr vom Kiez herüberzieht. Im Schatten des Schmidt Theaters am Spielbudenplatz sitzt Martin Lingnau, lässig zurückgelehnt, der Blick hellwach. Nur wenige Meter entfernt, im Schmidts Tivoli, läuft seit 22 Jahren sein Dauerbrenner „Heiße Ecke“ – seit kurzer Zeit in einer brandneuen Fassung. Heute aber spricht er, der bisher weit mehr als 20 Musicals geschrieben und über 40 Tonträger veröffentlicht hat, nicht über St. Pauli, sondern über Tokio. Denn sein Musical „Goethe!“ wird ab November 2025 erstmals in Japan aufgeführt.

„Damals hatten Gil Mehmert, Frank Ramond und ich gerade ‚Das Wunder von Bern‚ geschrieben – das ist ja auch schon eine Weile her – und im Anschluss kam der Wunsch von Stage Entertainment auf, dass wir drei einen weiteren deutschen Stoff für ein deutsches Publikum entwickeln“, erzählt Lingnau. „Stage schlug uns ‚Goethe!‘ vor, basierend auf dem Film von Philipp Stölzl, der bei Constantin erschienen ist.“

Sie sehen den Film, finden ihn sofort spannend. Nicht der Über-Dichter im Denkmalformat, sondern der junge Mann, der hadert, liebt, scheitert. „Es ist im Grunde eine Origin-Story: Der junge Goethe, der mit seinem Vater hadert, noch kein gefeierter Dichter ist, sondern ein Mensch auf der Suche nach seinem Platz im Leben. Niemand glaubt an ihn, er selbst am wenigsten.“ Eine unglückliche Liebe, die den „Werther“ gebiert – das ist der Stoff, den das Dreiergespann musikalisch erzählen will.

Goethe als Popstar

Der Ton des Films ist modern – und genau so soll auch die Musik klingen. „Unsere Prämisse war: Goethe war der erste Popstar. Er war schlagartig in aller Munde, ein Medienphänomen seiner Zeit. Daraus ergab sich für uns ganz klar die musikalische Richtung – Popmusik.“

Martin Lingnau (Foto: Dominik Lapp)
Martin Lingnau beim Gespräch mit unserer Redaktion auf der Hamburger Reeperbahn.

Martin Lingnau denkt Goethe in Songs. Jeder Titel taucht zweimal auf, aber beim zweiten Mal in anderem Licht, mit einer neuen Bedeutung. „Das Stück ist komplett durchkomponiert. Es ist mein bisher einziges durchkomponiertes Musical. Aber eben nicht im klassischen Sinn mit langen Rezitativen, sondern in moderner Songform.“ Das große Orchester – das Stück wurde für 30 Musiker und 30 Menschen auf der Bühne geschrieben – wird zur Spielwiese. Tempowechsel, Taktwechsel, abrupte Brüche: eine Partitur, die atmet, pulsiert, überrascht.

Vom Kiez nach Japan

„Musicals werden bekanntlich nicht geschrieben, sie werden umgeschrieben – das sagt man nicht umsonst.“ Der Komponist lächelt, als er die Produktionsgeschichte von „Goethe!“ erzählt: Workshop, Try-out 2017 in Essen, Uraufführung 2021 in Bad Hersfeld. Und nun, im November 2025, die japanische Erstaufführung mit der legendären Takarazuka Revue Company, dieser seit mehr als 100 Jahren bestehenden Theaterinstitution, in der alle Rollen von Frauen gespielt werden.

„Allein auf musikalischer Ebene mussten wir tief in die Partitur eingreifen, weil bei Takarazuka alle Rollen von Frauen gespielt werden. Da ergeben sich ganz neue stimmliche Herausforderungen. Wir mussten viele Tonarten anpassen und die Musik völlig neu denken“, berichtet der Musicalschaffende.

Goethe auf Japanisch

Die Übersetzung ist eine Kunst für sich. „Die japanische Sprache braucht deutlich mehr Silben, um dieselbe Information zu transportieren. Man kann also nicht einfach alles übersetzen, sondern muss sehr genau überlegen, was wirklich erzählt werden muss. Und dann natürlich: Goethe auf Japanisch!“ Martin Lingnau kann das fertige Libretto nur in englischer Rückübersetzung lesen, vertraut aber den Stimmen der Übersetzerinnen.

„Goethe!“ (Foto: Dominik Lapp)
Anders als auf diesem Szenenbild der Bad Hersfelder Uraufführung wird „Goethe!“ in Japan ausschließlich mit Frauen besetzt – das gehört seit Jahrzehnten zum Konzept der Takarazuka Revue Company.

Was er hört, klingt überzeugend: „Die musikalische Qualität ist enorm, das Ensemble ist hochprofessionell. Und obwohl alle Rollen von Frauen gespielt werden, ergibt sich durch die unterschiedlichen Stimmfarben eine erstaunlich große klangliche Vielfalt.“

Ein Novum in der Musicalgeschichte

Der Weg nach Japan ist einer einzelnen Frau zu verdanken: der Regisseurin Keiko Ueda. Sie kam ursprünglich 2021 nach Bad Hersfeld, um die deutsche Musicalszene kennen zu lernen – und blieb an „Goethe!“ hängen. „Sie wollte dieses Stück nach Japan bringen und hat es tatsächlich geschafft. Das ist ein echtes Novum: ‘Goethe!‘ ist das erste in Deutschland entwickelte Musical, das die Takarazuka-Company spielt.“

Stolz und Neugier

Für den Komponisten ist die Einladung eine Auszeichnung. „Es ist eine große Ehre. Natürlich würde ich mich auch freuen, wenn es in Deutschland öfter gespielt würde. Aber dass es jetzt ausgerechnet in Japan Premiere feiert, ist etwas ganz Besonderes.“

Lingnau weiß um die japanische Vorliebe für opulente historische Stoffe. Er weiß auch, dass „Goethe!“ mit seiner musikalischen und dramaturgischen Feinheit in dieses Raster passt. „Es geht nicht darum, einfach nur 20 gute Songs zu schreiben, was auch eine Kunst ist, sondern um ein komplexes Geflecht aus musikalischen Themen, die sich durch das ganze Stück ziehen.“

„Goethe!“ (Foto: Dominik Lapp)
Wird „Goethe!“ in Japan vielleicht im Manga-Stil zu sehen sein? Der Komponist wäre dafür zumindest aufgeschlossen.

Vorfreude auf Tokio

Am 16. November wird er bei der Premiere in Tokio im Publikum sitzen, nachdem er die letzte Probenwoche vor Ort besucht hat. „Im Dezember geht die Produktion dann nach Osaka.“ Bühnenbilder und Kostüme hat er noch nicht gesehen. „Ich stelle mir das alles sehr poppig vor, mit modernen Anklängen – vielleicht sogar leicht im Manga-Stil. Das passt auch gut zur Ästhetik des Stücks.“

An der japanischen Version arbeiten er und Sebastian de Domenico eng zusammen. „Ich bin sehr froh, ihn an meiner Seite zu haben. Er ist ein ganz großartiger Kollege, der für die Orchestration und Gesangsarrangements verantwortlich ist“, berichtet Lingnau. „Unser Buchautor Gil Mehmert ist in dramaturgische Fragen eingebunden, unser Librettist Frank Ramond bei der Übersetzungsarbeit.“

Lieblingsmomente des Komponisten

Hat der Komponist, der gebürtig aus Wilhelmshaven stammt, einen Favoriten im eigenen Werk? „Es gibt einige Momente, die mir sehr am Herzen liegen. ‚Es lebe das Leben‘ zum Beispiel – diese Ausrittszene, wo zum ersten Mal die Farbenlehre und der Sturm-und-Drang spürbar werden. Das ist eine meiner absoluten Lieblingsnummern.“ Auch „Lächerlich“, ein vertontes Goethe-Gedicht, oder „Der schönste Tag“, das sich „musikalisch immer weiter überhöht, fast ins Surreale kippt“, nennt er.

Vielleicht aber, sagt Martin Lingnau, sei sein eigentliches Lieblingsstück kein einzelner Song. „Sondern das Prinzip, dass wir musikalische Motive spiegeln, entwickeln, wiederholen – und dadurch emotional aufladen. Das liebe ich an diesem Stück besonders.“

Text: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".