
Fesselnde Parabel: „Wicked“ in Baden
Mit der österreichischen Erstaufführung von „Wicked“ gelingt der Bühne Baden ein Coup, der das traditionsreiche Haus schlagartig ins Zentrum des heimischen Musicalgeschehens katapultiert. Seit seiner Uraufführung 2003 am Broadway zählt das Stück von Stephen Schwartz (Musik und Liedtexte) und Winnie Holzman (Buch) zu den erfolgreichsten Musicals der Gegenwart – nun also endlich auch in Österreich (Übersetzung: Michael Kunze) zu erleben, und zwar unter Andreas Gergen, der seit dieser Spielzeit nicht nur der neue Künstlerische Leiter des Hauses ist, sondern selbst Regie führt. Dass sich andere Theater ebenfalls um die Rechte bemüht haben sollen, verleiht der Premiere zusätzlichen Glanz: Gergens Konzept hat sich durchgesetzt – wohl zu Recht, wie dieser Abend eindrucksvoll beweist.
Der renommierte Regisseur löst sich behutsam von der Originalinszenierung, ohne sie zu verleugnen. Er wählt einen Weg zwischen Traditionsbewusstsein und zeitgemäßer Lesart, was sich als großer Gewinn erweist. Die räumlich begrenzten Möglichkeiten der Bühne Baden werden hier nicht zum Nachteil, sondern zur Stärke: Der Fokus liegt stärker auf den Figuren, auf ihrer psychologischen Entwicklung und den gesellschaftlichen Themen, die „Wicked“ in sich trägt – Hautfarbe, Ausgrenzung, Rassismus, die Entstehung autoritärer Regime. Der moralische Unterbau des Stücks tritt schärfer hervor als in vielen größeren Produktionen, und das Ensemble agiert mit einer unglaublichen Intensität.
Francesc Abós zeichnet für die Choreografie verantwortlich und entfernt sich deutlich von den bekannten Bewegungsmustern der Broadway-Fassung. Seine Handschrift ist unverkennbar – rhythmisch, dynamisch, erzählerisch präzise. Die Bewegungen sind nie bloß Dekoration, sie treiben die Handlung unaufhörlich voran. Abós versteht es, Energie und Emotion zu verschmelzen.
Momme Hinrichs entwirft ein Bühnenbild, das Einfachheit und Wirkungskraft in sich vereint. Die schwarzen Backsteinwände – vielleicht als Pendant zur gelben Ziegelsteinstraße – bilden eine düstere Projektionsfläche für das moralisch korrumpierte Oz. Dreidimensionale Versatzstücke wie Stahltreppen werden durch Videoprojektionen ergänzt – ein Stilmittel, das Hinrichs bereits in Produktionen wie „Frankenstein Junior“ in Bonn, „Geisterritter“ in Essen oder „Die Hochzeit des Figaro“ und „La Juive“ in Hannover erprobt hat. Die visuellen Ebenen verweben sich zu einer atmosphärisch dichten Bildsprache, die die innere Zerrissenheit der Figuren spiegelt.

Claudio Pohles Kostüme sind eine Hommage an das Original, ohne sich ihm zu unterwerfen. Farben und Schnitte zitieren die ikonischen Vorbilder, setzen aber eigenständige Akzente. Besonders die funkelnden Gewänder sowie die nuancierten Outfits der beiden Hexen – vom mädchenhaft rosigen Glinda-Kleid bis zur schwarzen Robe Elphabas – erzählen visuell von Verwandlung und Identität.
Musikalisch steht der Abend unter der souveränen Leitung von Sebastian de Domenico, der das Orchester mit sicherer Hand durch die komplexen Klangschichten führt. Die Partitur von Stephen Schwartz, die sich zwischen Pop, Klassik und Musical-Tradition bewegt, wird mit glasklarer Präzision umgesetzt. Höhepunkte sind das hymnische „Frei und schwerelos“, das Laura Panzeri als Elphaba mit machtvollem und zugleich warm timbriertem Sopran singt, und das zart-melancholische „Weil ich dich kannte“, das den Schlussakkord in leiser Größe findet.
Panzeri verkörpert Elphaba mit jener Mischung aus Verletzlichkeit und innerer Stärke, die diese Figur so außergewöhnlich macht. Schon in der italienischen Filmversion lieh sie der grünen Hexe ihre Stimme – nun gibt sie ihr Körper, Stimme und Seele. Ihre Darstellung ist klug, differenziert, stets glaubwürdig in der Balance zwischen Idealismus und Verzweiflung. Vanessa Heinz steht ihr als Glinda mit glänzendem komödiantischem Gespür und glockenheller Stimme gegenüber. Glindas Entwicklung von der eitlen Society-Blondine zur loyalen Freundin zeichnet Heinz einfühlsam nach.
Timotheus Hollweg überzeugt als Fiyero mit einer eindrucksvollen Wandlung: Vom charmanten Schönling, der seine Privilegien unreflektiert genießt, wird er zum jungen Mann, der für seine Überzeugungen einsteht. Mark Seibert verleiht dem Zauberer von Oz eine beunruhigende Mischung aus Charme und Machtgier, bleibt in der kleinen Rolle aber hinter seinen Möglichkeiten zurück. Maya Hakvoort glänzt als Madame Akaber – eine Frau, die zwischen Loyalität und Ehrgeiz zerrieben wird, bis sie sich willfährig dem System unterordnet. In den Nebenrollen überzeugen Beppo Binder als warmherziger Dr. Dillamond, Anna Rosa Döller als tragische Nessarose und Jens Emmert als karikaturesker Moq.
„Wicked“ in Baden ist mehr als eine verspätete österreichische Erstaufführung – es ist ein kraftvoller Appell für Zivilcourage, Freundschaft und Selbstbestimmung. Andreas Gergen und sein Team beweisen, dass große Geschichten keine überdimensionierten Bühnen brauchen, um Magie zu entfalten. In Baden wird das Märchen von den Hexen von Oz zu einer fesselnden Parabel über unsere Gegenwart – poetisch, politisch und, ja, einfach zauberhaft.
Text: Patricia Messmer