„Rent“ (Foto: Edyta Dufaj)
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Zeitloses Meisterwerk: „Rent“ in St. Gallen

Dieses Musical kommt nicht aus der Mode: „Rent“ von Jonathan Larson spielt Anfang der Neunzigerjahre, wurde 1996 uraufgeführt und ist fast 30 Jahre später noch genauso aktuell. Denn es behandelt Themen wie Armut, Liebe, Freundschaft und vor allem den Umgang mit HIV/AIDS. Die Handlung ist von der Oper „La Bohème“ inspiriert, aber „Rent“ bringt die Story in die moderne Zeit und den urbanen Kontext von New York City. Das funktioniert auch am Theater St. Gallen unter der Regie von Matthew Wild hervorragend.

Wild spricht in seiner Inszenierung soziale Fragen und Herausforderungen an, darunter die HIV/AIDS-Epidemie, Obdachlosigkeit und die Suche nach Selbstverwirklichung. Dabei hat er glaubwürdige Charaktere geformt und großartige Bilder geschaffen, was dem Musical eine soziale Relevanz verleiht und es zu einem emotionalen und berührenden Erlebnis macht.

Mit Paul Wills hat er einen fabelhaften Bühnenbildner an seiner Seite, der für die Geschichte ein stimmiges Set gestaltet hat, das aus den Fassaden heruntergekommener New Yorker Gebäude, Balkonen mit Feuerleiter, Telefonzelle, Graffiti-Treppenhaus, einer alten Industriehalle und einer abgeranzten Mansardenwohnung besteht und durch das Lichtdesign von Tim Mitchell perfekt in Szene gesetzt wird. Einige Szenen werden zudem durch Videoeinspielungen von Reto Müller aufgewertet.

Für die Kostüme hat Claudio Pohle einen Cocktail aus Mode verschiedener Jahrzehnte gemixt. Darunter vertreten ist alles von den Siebziger- bis Neunzigerjahren, aber auch Anleihen der Gegenwart, was die vielfältigen Charaktere mit ihren verschiedenen ethnischen Hintergründen, sexuellen Orientierungen und Lebensstilen sehr gut unterstreicht und widerspiegelt.

Ebenso herausregend ist die Besetzung. Die Darstellerinnen und Darsteller beeindrucken mit ihren Leistungen und ziehen das Publikum geradezu in ihren Bann. Naomi Simmonds in der Rolle der Mimi präsentiert eine zauberhaft-soulige Stimme. Ihre zarte Darstellung der von HIV gezeichneten Figur bringt eine Mischung aus Verletzlichkeit und Stärke auf die Bühne. Die Chemie zwischen Mimi und Roger ist spürbar und trägt zur Intensität der Handlung bei.

Das ist auch ein Verdienst von Dominik Hees, der Roger das kernige Profil eines HIV-positiven Rocksängers verleiht, der immer darauf aus ist, den einen großen Song zu schreiben. Seine Bühnenpräsenz und die gewaltige Darstellung machen seine Figur besonders greifbar und berührend. Die Suche nach Identität und Liebe wird durch seine eindringliche Performance authentisch vermittelt.

Thomas Hohler als Mark fungiert als eine Art Erzähler und ist dabei ebenfalls äußerst präsent. Seine fantastische Stimme und überzeugende schauspielerische Leistung als Dokumentarfilmer tragen dazu bei, die Story voranzutreiben.

Jeannine Michèle Wacker brilliert als Maureen mit ihrer exzellenten Stimme und einem starken Auftritt bei „Over the Moon“. Ihre schillernde Persönlichkeit bringt eine erfrischende Dynamik in die Inszenierung und macht ihren Charakter zu einem unvergesslichen Teil des Ensembles. Kerry Jean als Joanne beeindruckt mit einem riesigen Stimmumfang und einer kraftvollen Ausstrahlung. Ein Höhepunkt des Stücks ist definitiv das Duett „Take me or leave me“, bei dem Wacker und Jean gemeinsam zur Höchstform auflaufen.

Gonzalo Campos López überzeugt als Angel mit einer anrührenden Darstellung. Sein Spiel vermittelt nicht nur die Zerbrechlichkeit seiner Figur, sondern auch die bedingungslose Liebe, die sie ausstrahlt. Daniel Dodd-Ellis zeigt als Tom einfühlsames Schauspiel und eine berührende Stimme. Und auch Vikrant Subramanian als Benny zeichnet ein glaubwürdiges Rollenprofil als Freund, Gegenspieler und schließlich jemand, der sein Denken ändert.

Ein wichtiges Zahnrad in der „Rent“-Maschinerie ist die Band unter der Leitung von Christoph Bönecker, die energiegeladen die von Rock inspirierte Musik von Jonathan Larson zum Klingen bringt. Zusätzliche Dynamik entsteht durch die Choreografie von Louisa Talbot. So beeindruckt das Stück musikalisch wie inszenatorisch, aber besonders durch das herausragende Ensemble, das die Charaktere mit Tiefe und Authentizität zum Leben erweckt. Dieses zeitlose Meisterwerk ist auch in St. Gallen ein emotionales Erlebnis.

Text: Christoph Doerner

Nach seinem Studium der Musiktheaterwissenschaft, einem Volontariat sowie mehreren journalistischen Stationen im In- und Ausland, ist Christoph Doerner seit einigen Jahren als freier Journalist, Texter und Berater tätig.