„Hercules“ (Foto: Dominik Lapp)
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Ohne Wow-Effekt: „Hercules“ in Hamburg

Das hat es seit 1999 nicht mehr gegeben, dass ein Disney-Musical in Deutschland Weltpremiere feiert. Damals war es „Der Glöckner von Notre Dame“ mit Musik von Alan Menken in Berlin, jetzt hat „Hercules“ – ebenfalls mit Musik von Menken – in der Neuen Flora Hamburg das Licht der Welt erblickt, nachdem es 2019 in einer einaktigen Fassung im New Yorker Central Park und 2023 in einem mehrwöchigen Tryout in New Jersey getestet und anschließend grundlegend überarbeitet wurde.

Grundsätzlich muss man sich allerdings fragen, warum ein wenig erfolgreicher Film für die Musicalbühne adaptiert wurde. „Hercules“ gilt in den USA nämlich mit einem Einspielergebnis von nur 99 Millionen Dollar als Flop. International spielte er weitere 154 Millionen Dollar ein, so dass das Gesamtergebnis bei 253 Millionen Dollar liegt. Zum Vergleich: Disneys „Die Eiskönigin 2“ spielte weltweit rund 1,4 Milliarden Dollar an den Kinokassen ein, der erste Teil des Eismärchens, das es auch als Musical in Hamburg gibt, bringt es auf rund 1,2 Milliarden Dollar und „Der König der Löwen“ konnte 986 Millionen Dollar einspielen.

Disneys Theaterboss Thomas Schumacher ist sich allerdings sicher, wie er in einem Pressetermin sagte, dass die Nachfrage für ein „Hercules“-Musical da sei und ohnehin alle die Musik von Alan Menken lieben würden. Doch ein paar Filmsongs, von denen wahrscheinlich nur „Go the Distance“, „Zero to Hero“ und „A Star is born“ in Erinnerung geblieben sein dürften, ergeben noch kein gutes und vor allem abendfüllendes Musical. Es musste also zusätzliche Musik (Arrangements: Michael Kosarin) komponiert werden – und diese additionalen Songs fügen sich zwar gut in den bestehenden Songkatalog ein, bleiben andererseits aber kaum im Gedächtnis.

Dabei ist Alan Menken für seine Filmmusik nicht ohne Grund 19-fach für den Oscar nominiert worden und hat ihn achtmal gewonnen. Oft genug hat er schließlich bewiesen, dass seine Scores maßgeblich zum Erfolg von Disneys Filmen und Musicals beitragen. Doch die neuen Songs für „Hercules“ klingen in Summe sehr beliebig. Ein neues Solo für Hades („Ein sauberer Schnitt“) ist eine coole Big-Band-Nummer, doch Aufbau und Szene erinnern an „A Friend like me“ aus „Aladdin“. Die neue Ballade für den Titelhelden („Mensch sein“) am Ende des zweiten Akts verleiht der Figur durch den Text von Kevin Schroeder Tiefe und Emotionen, aber die Nummer baut sich nur langsam auf und bleibt musikalisch unspektakulär. Die stärksten und interessantesten Lieder – so war es bereits im Film – haben die fünf Musen.

„Hercules“ (Foto: Johan Persson)

Generell gibt es für ein zweieinhalbstündiges Musical zu wenig Musikanteil und zu viele Dialoge. Ein Problem, das Disney-Musicals immer haben. Insgesamt sind 22 Songs zu hören, jeweils elf im ersten und zweiten Akt, darunter vier Reprisen und eine Zugabe („Ein Stern geht auf“). Das fabelhafte Orchester unter der versierten Leitung von Hannes Schauz, der seine Musikerinnen und Musiker mit Hingabe führt, ist definitiv das unverzichtbare Herzstück der Produktion.

Woran das Stück krankt, ist das schwache Buch von Robert Horn und Kwame Kwei-Armah. Die Story ist dürftig, vorhersehbar und wenig spannend, der Humor teilweise unterirdisch (Deutsche Dialoge: Ruth Deny) und die Charaktere oberflächlich. Es erschließt sich zudem nicht, warum außer Hercules niemand im Stück altert. So wird die Titelfigur als Baby in die Geschichte eingeführt, ist später ein erwachsener Mann, während beispielsweise Meg noch genauso alt ist wie zu dem Zeitpunkt, als Hercules ein Baby war. Weitere Logikfehler durchziehen die Story. So kämpft Hercules gegen die Hydra, der laut griechischer Mythologie eigentlich immer zwei Köpfe nachwachsen, wenn man ihr einen abschlägt – und der mittlere Kopf ist ohnehin unsterblich. Für den Titelhelden sind es jedoch nur ein paar Schwerthiebe, um das Monster zu erlegen.

Darüber hinaus gibt es keine logische Erklärung dafür, dass Hades‘ Kostüm bei seinem ersten Auftritt im Olymp dampft, der Effekt danach aber keine Anwendung mehr findet. Warum er im Olymp und auf der Erde glatte schwarz-blaue Haare hat, in der Unterwelt jedoch aussieht, als wäre bei der Dauerwelle etwas schiefgelaufen, gibt weitere Rätsel auf (Frisuren und Perücken: Mia M. Neal). Und obwohl bereits zwei Wochen vor der Premiere öffentliche Previews gelaufen sind, aber dabei offenbar nicht aufgefallen ist, dass aus den vorderen Parkettreihen die Bühnengassen einsehbar sind, ist ein echtes Ärgernis. So kann man nicht nur immer wieder Technikerinnen und Techniker sehen, sondern zum Teil auch die Darstellerinnen und Darsteller, die für den nächsten Auftritt in Stellung gehen. So verliert die Show ihre Disney-Magie und wirkt wie mit der heißen Nadel gestrickt, einfach unfertig.

Umso eindrucksvoller sieht das Bühnenbild von Dane Laffrey aus, das in Kombination mit dem Videodesign von George Reeves und dem Lichtdesign von Jeff Croiters die perfekte Atmosphäre schafft. Das Bühnenportal wird dominiert von zwei riesigen Steinsäulen mit Dach, was an einen griechischen Tempel erinnert. Auf der Bühne gibt es acht weitere Säulen, jede von ihnen sieben Meter hoch, die sich auf Plattformen drehen und dadurch immer neue Szenenbilder zwischen Olymp, Unterwelt und Erde entstehen lassen.

„Hercules“ (Foto: Johan Persson)

Der Olymp wird durch runde Elemente und helles Licht warm dargestellt, während die Unterwelt durch Dunkelheit, spitze Formen und Dornen charakterisiert wird. Das Portal zur Unterwelt, eine herabgelassene Brücke mit fahrbaren Treppen, ist mit 32 Totenköpfen verziert, darunter auch der von Micky Maus. Auf der Erde hingegen entsteht ein Marktplatz, ein Tempel, ein Garten, das Haus von Hercules‘ menschlicher Ziehmutter oder die Taverne „Medusa“ (die Szene dort erinnert an „Hygge“ aus „Die Eiskönigin“).

Durch die Integration einer Videowand verschmelzen physische und digitale Kulissen zu einer harmonischen Einheit, die die Welt auf der Bühne umfassend und kreativ gestaltet. Positiv fallen die glasklaren 3D-Bilder auf der Videowand auf, die sehr hübsch im griechischen Mosaikstil designt sind. Komplettiert wird die Optik durch die Spezialeffekte von Jeremy Chernick: In der Unterwelt fliegen so die Seelen aus den Körpern der Toten; wenn Hades einen Garten auf der Erde betritt, lassen die Blumen ihre Köpfe hängen.

Gregg Barnes und Sky Switser vereinen mit ihrem Kostümdesign moderne Mode mit antiker griechischer Kunst. So wirkt Hercules‘ erstes Kostüm wie das Outfit eines Boyband-Sängers aus den Neunzigerjahren, die Göttinnen und Götter im Olymp werden in klassischen weißen Gewändern dargestellt, und immer wieder finden sich Designs, die an griechische Vasen erinnern oder traditionell angehaucht sind. Großartig ist vor allem das Styling der Musen, die mit Abstand die meisten Kostümwechsel haben und unter anderem als Jazzsängerinnen, Cheerleader oder Kriegerinnen auftreten. Bei den von James Oritz entworfenen Puppen, die mystische Wesen und Monster der Unterwelt darstellen, ist allerdings noch Luft nach oben. Manche sind dabei sehr gut geraten, beispielsweise der überlebensgroße Hades, andere wirken dagegen uninspiriert.

Auch das Spiel der Puppenspielenden muss noch flüssiger werden, damit alles wie aus einem Guss wirkt. Choreografisch haben Casey Nicholaw und Tanisha Scott wirklich keine Glanzleistung vollbracht, alles wirkt entweder statisch oder unruhig. Dabei haben Musicals wie „Hamilton“ gezeigt, wie kreativ, großartig und raumeinnehmend die Choreografie in einem Musical sein kann. Bei der Regie hatte Nicholaw (bekannt durch „Aladdin“) immerhin ein glücklicheres Händchen, ist aber auch mit einer starken Cast gesegnet.

„Hercules“ (Foto: Dominik Lapp)

Die heimlichen Hauptdarstellerinnen sind die fünf Musen. Sie sind die Erzählerinnen und Kommentatorinnen, die zwischen Story und Publikum vermitteln. Leslie Beehann (Kalliope), Chasity Crisp (Thalia), Venolia Manale (Terpsichore), UZOH (Klio) und Shekina McFarlane (Melpomene) rocken von Anfang bis Ende und sorgen beim Publikum mehrmals für Begeisterungsstürme. Die Bühnenpräsenz, darstellerische Perfektion und Stimmgewalt der fünf Damen ist atemberaubend. Sie allein sind einen Besuch dieser Show wert. Einziger Kritikpunkt ist allerdings die Textverständlichkeit, wenn alle fünf gleichzeitig singen.

Perfekt besetzt wurde die Rolle des Hercules mit Benét Monteiro. Schauspielerisch überzeugt er mit einer authentischen Mischung aus jugendlicher Naivität und stürmischem Tatendrang, gesanglich strahlt er in jedem Song mit seiner gefühlvollen, glasklar artikulierten und sicher geführten Stimme. Mit seinen Soli „Endlich angekommen“ und „Mensch sein“ kann er emotional berühren, was aber auch ein Verdienst von Kevin Schroeders wunderbaren Texten ist. Dass Schroeder freie Hand gelassen wurde und so auch der Hit „Go the Distance“ als „Endlich angekommen“ neue deutsche Lyrics bekommen hat, darf entgegen aller Kritik im Vorfeld als Glücksfall bezeichnet werden.

Casey Nicholaw hat in seiner Inszenierung vor allem Hercules‘ Beweggründe, wieso sich dieser am Ende gegen den Olymp und für ein Leben auf der Erde entscheidet, sehr gut herausgearbeitet. Denn der Titelheld trifft diese Entscheidung nicht nur aufgrund seiner Liebe zu Meg, sondern auch wegen seiner Freunde wie Phil. Dieser wird hervorragend gespielt von Kristofer Weinstein-Storey, dessen Kostüm ihn wie im Film perfekt als Satyr, eine Mischung aus Mensch und Ziege, outet. Sein Phil ist zunächst abweisend-unfreundlich, dann jedoch ein echter Sympathieträger. Mit „Phils Rat“ wurde Weinstein-Storey ein passender neuer Song auf die Kehle geschrieben, den er mit Inbrunst intoniert.

„Hercules“ (Foto: Dominik Lapp)

Mae Ann Jorolan ist eine hinreißende Meg – schauspielerisch, optisch, gesanglich passt hier alles. Allerdings konnten sich die Buchautoren und der Regisseur offenbar nicht entscheiden, ob sie mit der Figur ein starkes Frauenbild zeichnen wollten oder eine komplett verstimmte Dauernörglerin, die mit ihrer Gesamtsituation unzufrieden ist. Doch Jorolan kitzelt alles aus ihrer Rolle heraus, was möglich ist. Ihre Meg ist vorlaut, taff und lässt sich insbesondere von Männern – schon gar nicht von Hades – die Butter vom Brot nehmen. Mit Benét Monteiro harmoniert sie schauspielerisch wie gesanglich sehr gut, außerdem passt ihr warmer Mezzosopran bestens zu Megs Songs.

Besonders interessant sind die Figuren der Unterwelt – allen voran natürlich Hades, dem Detlef Leistenschneider ein gelungenes Profil verleiht. Hades ist kein klassischer Bösewicht, sondern hat eine sehr witzig-sarkastische und durchaus auch subtile Seite. Leistenscheider schöpft hier schauspielerisch genial aus dem Vollen, besonders bei Hades‘ Mutterkomplex. Aber auch gesanglich lässt er nichts zu wünschen übrig. Mario Saccoccio und André Haedicke stehen als Handlanger Karl und Heinz (im Film: Pech und Schwefel) an der Seite von Hades. Selbst wenn man mit Disneys Humor nicht viel anfangen kann, wird man Saccoccio und Haedicke als witziges Duo lieben, weil sie sich die Bälle brillant zuwerfen und ihren Figuren trotz der Zugehörigkeit zur Unterwelt sympathische Züge verleihen.

Stellt sich am Ende die Frage: Ist dieses Musical sehenswert? Ja, durchaus. Ob es das Zeug zu einem Dauerbrenner hat? Wahrscheinlich nicht. Vielmehr wird sich das Stück bei international weniger erfolgreichen Disney-Produktionen wie „The Little Mermaid“ einreihen. Denn bei dem schwachen „Hercules“ kommt erschwerend hinzu, dass die Konkurrenz in Hamburg mit dem Theaterstück „Harry Potter und das verwunschene Kind“ und den zwei weiteren Disney-Musicals „Der König der Löwen“ und „Die Eiskönigin“ groß ist. Zwar ist Letzteres nur noch bis September 2024 zu sehen, doch steht mit dem Michael-Jackson-Musical „MJ“ bereits ein weiterer starker Konkurrent in den Startlöchern. Keine guten Aussichten also für „Hercules“, obwohl Cast und Bühnenbild wirklich beeindrucken können. Einen für Disney so typischen Wow-Effekt vermisst man allerdings.

Text: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".