„Das Glück ist eine Orange“ in Detmold
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Über Limonade und einen bitteren Kern: „Das Glück ist eine Orange“ in Detmold

Mit der Uraufführung von „Das Glück ist eine Orange“, untertitelt mit „Sinalco – Das Musical“, macht sich das Landestheater Detmold zu seinem 200. Bestehen selbst ein ebenso kluges wie mutiges Geschenk. Was auf den ersten Blick nach Heimatabend mit Brauseblasen klingen könnte, entpuppt sich als erstaunlich vielschichtige Auseinandersetzung mit deutscher Industriegeschichte, moralischer Verantwortung und persönlicher Verstrickung. Dass ausgerechnet eine Kultlimonade, die vor 120 Jahren in Detmold erfunden wurde und zeitweise in Deutschland bekannter war als Coca-Cola, zum Ausgangspunkt eines großen Musiktheaterabends wird, ist ebenso charmant wie riskant. Dieses Risiko geht der Abend mit bemerkenswerter Ernsthaftigkeit ein.

Librettist und Regisseur Peter Lund betont im Programmheft zu Recht, dass hier kein Werbe-Musical entstehen sollte. Statt nostalgischer Markenverklärung rückt er eine historisch hochproblematische Figur ins Zentrum: Gustav G. Hardorp, Generaldirektor von Sinalco zwischen 1936 und 1946, überzeugtes NSDAP-Mitglied, nach dem Krieg wegen seiner NS-Belastung entlassen und nach 14 Monaten Entnazifizierung 1948 erneut in sein Amt eingesetzt, das er bis 1963 behält. Der historische Kern des Musicals speist sich aus einer filmischen Dokumentation über das Unternehmen zwischen 1935 und 1964 sowie aus der unveröffentlichten Hardorp-Biografie von Dr. Hans-Joachim Keil, der das Projekt beratend begleitete. Diese fundierte Quellenlage verleiht dem Abend eine spürbare historische Erdung.

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Lunds Buch ist klug gebaut. Die Handlung ist in den Sechzigerjahren angesiedelt, springt jedoch immer wieder in die Dreißigerjahre zurück. Diese Zeitebenen sind dramaturgisch geschickt verschränkt, die Übergänge gelingen fließend und ohne erklärenden Ballast. Erzählt werden wirtschaftliche Erfolge und unternehmerische Umbrüche ebenso wie die dunklen Kapitel der NS-Zeit und der moralisch ambivalente Neuanfang nach dem Krieg. Historische Figuren treten neben fiktive, persönliche Schicksale spiegeln strukturelle Verwerfungen. Es geht um Macht und Moral, um Anpassung und Verantwortung – Themen, die weit über den Detmolder Kontext hinausweisen.

„Das Glück ist eine Orange“ in Detmold (Foto: Dominik Lapp)

Das Herzstück des Abends ist die Musik von Thomas Zaufke. Er beweist nach Stücken wie beispielsweise „Die Königinnen“ einmal mehr, warum er zu den profiliertesten Musicalkomponisten im deutschsprachigen Raum gehört. Seine Partitur spannt einen stilistisch sicheren Bogen von den Vierziger- bis in die Sechzigerjahre, ohne je in bloße Stilkopie zu verfallen. Große Musicalballaden wechseln mit heiteren Nummern, es gibt eindrucksvolle Soli, berührende Duette und ein starkes Quartett. Die Melodien gehen sofort ins Ohr, tragen die Emotionen der Figuren und geben den Konflikten musikalische Tiefe. Zaufke findet dabei stets den richtigen Ton zwischen Drama und Leichtigkeit – und auch der bekannte Werbejingle „Die Sinalco schmeckt“ hat es in die Partitur geschafft.

Auch die Songtexte von Peter Lund überzeugen. Sie sind präzise, pointiert und emotional, erzählen Geschichte, ohne didaktisch zu werden, und zeichnen die Figuren mit sprachlicher Feinheit. Regie und Text greifen hier ideal ineinander, die Personenzeichnung ist klar und differenziert.

Bart De Clercqs Choreografie nutzt das Ballett des Landestheaters mit großer Dynamik. Die Bewegungen sind flott, präzise und dramaturgisch sinnvoll eingebunden, besonders in den größeren Ensemblenummern entfaltet sich eine mitreißende Energie. Ulrike Reinhards Bühnenbild bleibt bewusst einfach, erweist sich jedoch als äußerst funktional und flexibel für die Zeit- und Szenensprünge zwischen Fabrikhalle, Kantine, Werbeabteilung, Büro des Generaldirektors und einer Wohnung. Daria Kornyshevas Kostüme sind zeitlich exakt verortet, und in der großen Werbeszene setzen die gelben Outfits mit Sinalco-Logo ein visuelles Ausrufezeichen.

„Das Glück ist eine Orange“ in Detmold (Foto: Dominik Lapp)

Das Ensemble trägt diesen anspruchsvollen Abend mit beeindruckender Geschlossenheit. Thorsten Tinney gestaltet Gustav G. Hardorp mit überzeugendem Schauspiel und kraftvollem Gesang, authentisch in seiner Ambivalenz zwischen unternehmerischem Charisma und moralischer Blindheit. Annette Blazyczeh überzeugt als Chefsekretärin Elsbeth Wessling mit klarer Präsenz. Sandra Leitner liefert als Franziska Hinkler eine grandiose Leistung: Ihre Figur arbeitet sich bis zur stellvertretenden Marketingchefin der Sechzigerjahre hoch, sie erhält die schönsten Lieder des Abends und begeistert sowohl gesanglich als auch darstellerisch.

Brigitte Bauma macht die Vorarbeiterin Emma Puhlmann zur warmherzigen Sympathieträgerin, zur guten Mutter der Firma mit offenem Ohr und der Fähigkeit zu klaren Ansagen. Patrik Cieslik gibt dem Werbefachmann Michael Brandt Profil und Tiefe, mit starkem Gesang und feinem Spiel. Nikos Striezel setzt als aufrührerischer Chauffeur Heinrich Krüger markante Akzente. Franziska Pfalzgraf berührt als Stenotypistin Anneliese Stratmann, Hardorps Ziehtochter, deren Lebensweg tragisch endet. Heiner Junghans schließlich verleiht Carl Vogel, dem von 1908 bis 1935 amtierenden Generaldirektor, der aufgrund seiner jüdischen Herkunft abgesetzt wurde, stille Würde.

So ist „Das Glück ist eine Orange“ zwar ein Musical mit unverkennbarem Lokalkolorit geworden, doch zugleich eines, das sich problemlos für andere Bühnen eignet. Gerade weil es keine Werbeshow ist, sondern eine ernsthafte, musikalisch mitreißende Erzählung über Macht, Verantwortung und Moral, funktioniert diese Geschichte überall.

Text: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".