Mit Fantasie und Qualität: „Die Weihnachtsglocken“ in Nordhausen
Charles Dickens‘ Weihnachtsgeschichte gehört zum kulturellen Grundrauschen der Adventszeit. „A Christmas Carol“ ist in zahllosen Bühnen- und Filmfassungen präsent, man denke nur an die Musicals „Der Geist der Weihnacht“, „Eine Weihnachtsgeschichte“ oder die Version von Oscar-Preisträger Alan Menken. Umso mutiger ist der Schritt, sich einer weniger bekannten Vorlage zuzuwenden: Mit „Die Weihnachtsglocken“ bringt das Theater Nordhausen Dickens‘ zweite, aber wenige bekannte Weihnachtsgeschichte „The Chimes“ erstmals als Musical auf die Bühne – und erlebt damit eine ebenso beachtliche wie publikumswirksame Uraufführung.
Theaterintendant Daniel Klajner übernimmt dabei nicht nur die Initiative, sondern gleich das gesamte künstlerische Fundament: Buch, Songtexte und Musik stammen aus seiner Hand. Dass sämtliche Vorstellungen in kürzester Zeit ausverkauft sind, spricht zunächst für den Nerv, den diese Produktion trifft. Inhaltlich bleibt Klajner der literarischen Vorlage eng verbunden. Charles Dickens zeichnet hier ein noch schärferes Bild sozialer Ungerechtigkeit als in der berühmteren Scrooge-Erzählung. Die Kälte der Wohlhabenden gegenüber den Armen wird drastisch vorgeführt, moralische Selbstgewissheit entlarvt, bürokratische Härte bloßgestellt.
Das Buch transportiert diese Themen klar und nachvollziehbar, während die Songtexte nicht immer die gleiche Sorgfalt erkennen lassen. Manches wirkt allzu bemüht gereimt und verliert dabei an sprachlicher Eleganz. Umso überzeugender ist jedoch die musikalische Ebene. Klajners Partitur entfaltet eine beachtliche stilistische Vielfalt: Dramatische, fast düstere Klangflächen stehen neben spielerisch-heiteren Nummern, intime Balladen wechseln mit kraftvollen Ensemblestücken. Die Musik trägt die Handlung, vertieft Emotionen und verleiht der Geschichte eine wunderbare theatralische Dynamik.
Julian Gaudiano sorgt am Pult des Loh-Orchesters Sondershausen für eine präzise, farbenreiche Umsetzung der Partitur. Das Orchester wird der Musik in all ihren Facetten gerecht, hält die Balance zwischen Dramatik und Leichtigkeit und stützt die Sängerinnen und Sänger zuverlässig.
Ivan Alboresis Inszenierung erweist sich als großer Gewinn des Abends. Fantasievoll und atmosphärisch dicht zeichnet er ein London, das von Armut, sozialer Ungleichheit und kalter Bürokratie geprägt ist. Seine Personenführung ist klar und detailreich, Figuren und Beziehungen bleiben jederzeit verständlich. Alboresi findet eindrückliche Bilder für die moralischen Abgründe der Gesellschaft und für die Hoffnung auf Veränderung.
Das Bühnenbild von Wolfgang Kurima Rauschning verstärkt diesen Eindruck nachhaltig. Vor den winterlichen Straßen Londons dominieren zwei monumentale Glocken die Bühne. Sie sind auf der Rückseite offen und verwandeln sich in wechselnde Schauplätze: rohe Bretterwände stehen vergoldeten Flächen gegenüber. Diese visuelle Gegenüberstellung von Elend und Reichtum macht die soziale Spaltung des Stücks unmittelbar erfahrbar. Anja Schulz-Hentrichs Kostüme fügen sich stimmig in dieses Bild ein und verorten das Geschehen überzeugend im viktorianischen London.
Darstellerisch überzeugt das Ensemble auf ganzer Linie. Alen Hodzovic gestaltet den Dienstboten Toby Veck mit großer Empathie und stimmlicher Präsenz. Jeannette Wernecke verleiht der verstorbenen Audrey eine berührende Qualität, Jeannine Michèle Wacker als Tochter Meg verbindet jugendliche Hoffnung mit stiller Stärke, während Florian Tavic als Richard und erste Glocke zwischen Liebhaber und übernatürlichem Mahner souverän wechselt. Jörg Neubauer gibt dem Landarbeiter Will Fern kantige Bodenständigkeit, Yuval Oren überzeugt als dessen Nichte Lilly mit klarem Ausdruck. Juliane Bischoff zeichnet Anna Chickenstalker als schillernde Mischung aus Geschäftstüchtigkeit und moralischer Kälte. Marian Kalus als Alderman und zweite Glocke sowie Thomas Kohl als Sir Bowley und dritte Glocke verkörpern eindrucksvoll die selbstgerechte Arroganz der Mächtigen.
„Die Weihnachtsglocken“ erweist sich als ambitioniertes, musikalisch starkes und szenisch klug umgesetztes Musical, das eine zu Unrecht vergessene Dickens-Erzählung neu ins Bewusstsein rückt. Der Abend entfaltet große Wirkung – nicht zuletzt, weil er die soziale Sprengkraft der Geschichte ernst nimmt und ihr mit Fantasie, Qualität und einem engagierten Ensemble begegnet. Das Theater Nordhausen beweist damit Mut zur eigenen Handschrift.
Text: Christoph Doerner

