„Rusland und Ljudmila“ in Hamburg
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Enormer Schauwert: „Ruslan und Ljudmila“ in Hamburg

An der Staatsoper Hamburg wird „Ruslan und Ljudmila“ nicht als folkloristische Zauberoper erzählt, sondern als Gegenwartsstück über Identität, Begehren und Widerstand. Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka – in Personalunion verantwortlich für Regie, Bühnenbild und Kostüme – lösen Michail Glinkas Märchenstoff entschlossen aus seiner musealen Patina und lesen ihn als Parabel auf Menschen, die aus eingefrorenen Geschlechterrollen ausbrechen wollen. Diese Neuinterpretation denkt nicht weltpolitisch, sondern gesellschaftspolitisch, und genau darin liegt ihre Kraft: im beharrlichen Insistieren auf individueller Selbstfindung trotz normierender, feindlicher Umfelder.

Der Abend entfaltet von Beginn an einen eigenen Zauber, auch wenn er sich bewusst von klassischen Märchenbildern verabschiedet. Der Schauwert ist enorm. Schon die eröffnende Szene überrascht mit einer Eislauffläche, auf der geschmeidig Schlittschuh gelaufen wird – ein Bild für Glätte, Kontrolle und soziale Kälte. Diese Oberwelt erscheint perfekt organisiert, privilegiert, leistungsfixiert, überwacht. Was darunter liegt, ist das eigentliche Zentrum der Inszenierung: Eine riesige, detailversessene U-Bahn-Station, in der der Großteil der Handlung spielt. Hier rattern in regelmäßigen Abständen verrostete blaue Züge durch, vorbei an Ticketschalter, Telefonzellen, Zeitschriftenladen und Imbiss. Es ist eine Unterwelt mit eigenen Regeln, ein urbanes Upside-down-Universum, das unweigerlich an den Orpheus-Mythos erinnert – nicht als mythische Reminiszenz, sondern als existenzielle Erfahrung von Abstieg, Suche und Erkenntnis.

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In diesem Untergrund wird Ruslans Reise lesbar. Der gesanglich hervorragende Ilia Kazakov zeichnet die Titelfigur zunächst als Mann, der sich an gängige männliche Stereotype anpasst, an Erwartungshaltungen und vorgefertigte Bilder von Liebe und Heldentum. Doch je länger die Suche dauert, desto brüchiger wird diese Rüstung. Die Konfrontation mit verdrängten Sehnsüchten ist schmerzhaft, aber unausweichlich. Seine Liebe zu Ratmir – berührend gespielt und gesungen von Artem Krutko, der seinen Countertenor mehr als einmal strahlen lässt – widerspricht den gesellschaftlichen Erwartungen der Oberwelt. Die Inszenierung formuliert diesen Konflikt klar, ohne plakativen Gestus: als stillen, hart erkämpften Akt der Selbstbehauptung gegen patriarchale Strukturen und normierte Identitätsentwürfe.

In den weiteren Solopartien überzeugt Barno Ismatullaeva als Ljudmila mit ihrem leuchtenden Sopran und einem Schauspiel zwischen Selbstbehauptung und Verletzlichkeit. Alexei Botnarciuc gibt dem Farlaf eine scharf konturierte, durchaus ambivalente Präsenz, während Nicky Spence als Bajan und Finn mit stimmlicher Flexibilität und darstellerischer Intelligenz punktet. Angela Denoke gestaltet ihre Naina als dunkle, komplexe Figur jenseits einfacher Zuschreibungen. Natalia Tanasii als Gorislawa und Tigran Martirossian als Swetosar fügen sich stimmig in das starke Ensemble.

Dass der Abend trotz seiner analytischen Schärfe nie trocken wirkt, verdankt er nicht zuletzt der visuellen und atmosphärischen Dichte. Die Videos von Janic Bebi und das Licht von Bernd Gallasch sind integraler Bestandteil der Erzählung. Sie modellieren Räume, verstärken emotionale Zustände, lassen die U-Bahn-Station mal bedrohlich, mal schützend wirken. Das Licht zeichnet Grenzen zwischen oben und unten, zwischen Sichtbarkeit und Verdrängung, während die Videobilder innere und äußere Welten ineinander spiegeln.

Musikalisch ist „Ruslan und Ljudmila“ ebenfalls ein Ereignis. Unter der Leitung von Azim Karimov entfaltet das Philharmonische Staatsorchester Hamburg die Partitur als das, was sie ist: eine Belcanto-Oper russischer Prägung mit virtuosem Gesang, reich an lyrischen, gefühlvollen Szenen. Karimov nimmt sich Zeit für Farben und Übergänge, lässt die Musik atmen und vermeidet jede bloße Illustration. Phasenweise erinnert Glinkas Klangwelt tatsächlich an die suggestive Emotionalität von Märchenfilm-Musik, dann wieder blitzen rhythmische Schärfen und orchestrale Transparenz auf. Besonders eindrucksvoll ist der Detailreichtum, mit dem das Orchester Stimmungen modelliert, ohne je die Sängerinnen und Sänger zu überdecken. Zudem agiert der Chor, einstudiert von Alice Meregaglia, geschlossen, präzise und mit großer Ausdruckskraft. Er ist nicht bloß Kommentator, sondern gesellschaftlicher Resonanzraum, der Druck, Norm und kollektive Erwartung hörbar macht.

Ein einzigartiger Moment entsteht außerdem durch die Solo-Violine von Konradin Seitzer. Ihr Klang verleiht der entsprechenden Szene eine schmerzhafte Intensität, als würde eine innere Stimme hörbar. Hier verdichtet sich das Zusammenspiel von Musik, Raum und Bedeutung.

Diese Neuinszenierung von „Ruslan und Ljudmila“ glaubt an die Kraft der Oper als Ort gesellschaftlicher Selbstbefragung und erzählt auf herausragende Weise von der Suche nach der eigenen Stimme in einer Welt der Zuschreibungen und Kontrollen. Bleibt zu hoffen, dass diese hierzulande bislang kaum gespielte Opernrarität in der nächsten Spielzeit eine Wiederaufnahme an der Staatsoper Hamburg erlebt.

Text: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".