Nils Wanderer (Foto: Dominik Lapp)
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Interview mit Nils Wanderer: „Schubladen sind für Schränke, nicht für Musik“

Der Countertenor Nils Wanderer sprengt Grenzen zwischen Oper und moderner Musik und ist seit seinen Engagements in „Romeo und Julia – Liebe ist alles“ und „Chicago“ selbst Musicalfans kein Unbekannter mehr. Im Interview spricht er darüber, wie er seine Leidenschaft für Musik entdeckte, wie er mit den Herausforderungen des Reisens umgeht und warum für ihn Schubladen in der Musik keine Rolle spielen. Ein Gespräch voller Inspiration und Einblicke in die Seele eines Wanderers zwischen den Welten von Oper, Musical und mehr.

Deinen ersten Auftritt hattest du als einer der drei Knaben in Mozarts „Zauberflöte“ im Alter von sechs Jahren. Hast du dich damals schon in die Oper verliebt oder hat sich dein Berufswunsch erst später herauskristallisiert?
Ich wollte schon immer Sänger werden, obwohl ich nicht aus einer musikalischen Familie komme und auch in meiner näheren Umgebung Musik keine große Rolle gespielt hat. Mein Vater hört Heavy Metal. Aber ich wurde mit fünf Jahren für den Knabenchor gecastet und hatte dann direkt mit sechs mein Debüt als erster Knabe in der „Zauberflöte“. Mir war also immer klar, dass ich Sänger werde. Neben Tierarzt und Postbote. Aber Sänger hat mich immer am meisten interessiert, weil ich diese Emotionen schön finde, die Kommunikation mit dem Publikum und die Möglichkeit, Menschen zu bewegen, ihnen für eine kurze Zeit alle Sorgen und Nöte zu nehmen und in eine andere Welt zu entführen. Das hat eine besondere Magie.

Und dann bist du Countertenor geworden. Das ist eine sehr spezielle Stimmlage. Hattest du nie die Intention, Popsänger zu werden? Wusstest du immer, dass es in die klassische Richtung gehen wird?
Ich habe Knabensopran gesungen und nach dem Stimmbruch einfach weitergesungen. Ich wusste, dass ich Gesang studieren möchte, hatte aber keine Ahnung davon, dass es Countertenöre gibt. Ich wurde also als Bariton oder dramatischer Tenor für das Studium angenommen. Für mich habe ich weiter Counter gesungen, weil das meine ehrliche, natürliche und authentische Stimme war. Irgendwann habe ich meinem Gesangslehrer vorgesungen und ihn vorher gebeten, nicht zu lachen, weil ich in einer anderen Stimme singen würde. Eine Woche später hatte ich mein Debüt als Altsolist im Weihnachtsoratorium. Da war klar, dass das mein Weg sein würde. Diese Mischung aus Brust- und Kopfstimme ist genau mein Ding. Trotzdem liebe und mache ich auch Popmusik. Ich habe etwas mit „Rosenstolz“ gemacht und arbeite gerade an meinem ersten Album, das eine Mischung aus beiden Richtungen sein wird: Wanderer zwischen den Welten, barocke Musik und moderne Elemente. Die Mischung ist wichtig, weil Musik für mich keine Grenzen hat. Als Countertenor bin ich ohnehin Freiwild und kann mich in allen Genres bewegen. Das ist mir sehr wichtig, weil ich Barockmusik genauso liebe wie moderne Musik, Pop und Musical. Das gehört zu mir und ist ein Teil meiner Identität.

Nils Wanderer (Foto: Dominik Lapp)

Countertenöre sind selten bis gar nicht an Opernhäusern fest angestellt, sondern arbeiten freischaffend. Wie ist das bei dir?
Als Countertenor arbeite auch ich freischaffend, weil es insgesamt einfach zu wenig Rollen gibt, um festes Ensemblemitglied zu werden. Ich habe eine Agentur, die für mich tätig ist und mir Engagements vermittelt. Wenn ich irgendwo gesungen habe, ergeben sich anschließend oft auch neue Jobs. Außerdem nutze ich meine Reichweite auf Social Media, was mittlerweile nicht unwichtig ist und nicht unterschätzt werden sollte. Ich bin dankbar dafür und glücklich darüber, dass ich so viel arbeiten darf. Das ist nicht selbstverständlich – gerade nach der Corona-Pandemie. Aber selbst in dieser Zeit habe ich gearbeitet und mir Möglichkeiten gesucht. Ich habe ein Festival gegründet, im Kloster Maulbronn Freilichtkonzerte veranstaltet und an einem kleinen Theater „Dido and Aeneas“ inszeniert und gesungen.

Du musst dir als Künstler also immer neue Möglichkeiten suchen oder schaffen?
Genau. Ich muss dazu sagen, dass mir als Künstler selten etwas zugeflogen ist. Ich musste mir viel erarbeiten und ein großes Durchhaltevermögen haben, was gut ist, weil ich mir dadurch eine gewisse Basis geschaffen habe.

Für deinen Beruf bist du häufig unterwegs – und zwar international. Liebst du das Reisen?
Ja, ich reise gern und bin passend zu meinem Namen wirklich ein Wanderer. Dennoch ist das Reisen anstrengend. Also sagen wir so: Ich liebe es, anzukommen. Aber von dem Prozedere vor einer Reise bin ich kein Fan. Ich stehe nicht gern früh auf, um morgens um vier Uhr zu packen, damit ich abends ein Konzert singen kann. Am Flughafen einchecken, durch die Security – das ist alles gar nicht mein Ding. Am liebsten würde ich mich beamen. Aber ich liebe es, anzukommen, an verschiedenen Orten zu arbeiten und überall Kollegen und Freunde zu haben.

„Lear“ mit Nils Wanderer in Hannover (Foto: Dominik Lapp)

Wie haushaltest du mit deiner Energie bei dem ganzen Reisestress?
Ich habe das große Glück, dass ich keinen Alkohol trinke und noch nie geraucht habe. Ich versuche mich körperlich fit zu halten, gesund zu essen, Vitamine zu mir zu nehmen und mal einen heißen Tee zu trinken. Das sind alles Kleinigkeiten, die aber wirklich helfen. Mit 18 oder 19 habe ich noch Nächte durchgefeiert und am nächsten Morgen eine Probe gesungen. Das wäre heute mein Untergang. Natürlich kann man auch mal feiern und unvernünftig sein, außerdem esse ich gern und gut. Aber ich muss genauso diszipliniert sein, ausreichend schlafen und mich körperlich checken lassen. Ich versuche einfach, mir selbst etwas Gutes zu tun – auch in stressigen Zeiten.

Wie stehst du zu Kritiken? Wie wichtig sind sie für Jobs?
In der Regel lese ich keine Kritiken, weil ich am bestens weiß, was ich an einem Abend auf der Bühne gemacht habe. Mir ist das Feedback des Publikums viel wichtiger. Ich mag es, wenn ich auf der Premierenfeier angesprochen werde und mir die Leute erzählen, was ihnen gefallen und sie berührt hat. Als Künstler bekomme ich jeden Tag Feedback von Regisseuren, Dirigenten und Kollegen. Dieses Feedback empfinde ich als wertvoll. Trotzdem sind Kritiken nicht unwichtig. Sie sind nützlich, damit Menschen wissen, worauf sie sich einlassen. Mich persönlich interessiert aber auch die Meinung von Laien, denn wir spielen hauptsächlich für Laien. Zum Beispiel frage ich meinen Vater immer, wie er eine Vorstellung fand. Und er sagt mir klar heraus, wenn er etwas berührend oder auch über manche Strecken ein bisschen langwierig fand. Denn es wird nicht nur ihm so ergangen sein, sondern auch anderen. In den Theatern werden Kritiken natürlich verfolgt, die Verantwortlichen sehen so auch, welche Künstlerinnen und Künstler gerade sehr gut ankommen.

Du hast den Bundeswettbewerb Gesang und den Operalia-Wettbewerb gewonnen. Bei Letzterem warst du sogar der erste Deutsche und der einzige Countertenor, der dort jemals gewonnen hat. Was bedeuten dir solche Auszeichnungen?
Das ist schon Wahnsinn. Ich sehe mich selbst als Underdog und komme eigentlich vom Tanz, aus dem Schauspiel. Ich habe zwar immer gesungen, mich aber nie als Musikexperten gesehen, sondern immer nur die Musik, die ich als mein größtes Ventil betrachte, um kreativ zu sein und zu kommunizieren, mein Inneres nach außen zu bringen. Bei solchen Wettbewerben zu gewinnen, die so wichtig sind und solch ein Renommee haben, ist definitiv etwas Besonderes. Ich habe mich dort unverstellt als Nils gezeigt und gesungen, was ich liebe. Ich hatte das Gefühl, dass es nicht darum ging, am lautesten und höchsten Arien zu singen, sondern eine Rolle zu verkörpern. Dabei so anerkannt zu werden, war ganz besonders für mich. Natürlich bin ich dankbar dafür, weil es in meinem Leben etwas verändert hat, muss aber auch sagen, dass die Wettbewerbsmedaille zwei Seiten hat. Es gibt viele Künstler, die bei solchen Wettbewerben gescheitert sind und dennoch Weltkarrieren hingelegt haben. Es ist ja nur eine subjektive Momentaufnahme der Jury. Sie wählen jemanden aus, den sie in diesem Moment favorisieren. Viele Kollegen, die solche Wettbewerbe nicht gewonnen oder gar nicht erst daran teilgenommen haben, sind mindestens genauso erfolgreiche und großartige Sänger.

Nils Wanderer (Foto: Dominik Lapp)

Du bist als Sänger, Schauspieler, Regisseur und Choreograf tätig. Woher kommt diese Vielseitigkeit?
Ja, es hat sich mit der Zeit einiges angesammelt. (lacht) Ich habe eine Tanzausbildung absolviert und nebenbei als Schauspieler angefangen. Dann habe ich Gesang und Musiktheater in Weimar studiert, war an der Guildhall in London. Als Choreograf habe ich irgendwie immer schon gearbeitet und es geliebt, mit Chören Massenchoreografien zu erarbeiten. Das ist mittlerweile auch so etwas wie mein Markenzeichen, wenn ich inszeniere, dass ich gern auf Requisiten verzichte und lieber alles mit Menschen auf die Bühne bringe. Ich finde, dass der Mensch unglaublich spannend ist in all seinen Formen, Farben und Facetten. Ab der Spielzeit 2024/2025 werde ich Artist in Residence am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, wo ich inszenieren und Konzerte singen werde. Das ist ein Traum, die Freiheit zu haben, als Künstler selber kreieren zu dürfen, schöne Rollen zu singen und eigene Programme zu konzipieren.

Du sprengst Genregrenzen, die Unterteilung in E- und U-Musik scheint somit nichts für dich zu sein, oder?
Ich halte davon gar nichts. Schubladen sind für Schränke, nicht für Musik. Natürlich verstehe ich, dass es gewisse Faktoren gibt, die Menschen bei der Entscheidung helfen, ob sie in ein Konzert gehen wollen oder nicht. Allerdings muss ich sagen, dass viele meiner Kollegen aus der Popularmusik wesentlich ernster arbeiten als einige aus der ernsten Musik. Sie bringen die gleiche Qualität, Leidenschaft und Größe mit. Für mich habe ich entdeckt, dass meine Kraft zwischen diesen Welten liegt. Ich möchte diese Welten zusammenbringen und verschmelzen. Ich bin immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, Musik aus dem 16. Jahrhundert in die Gegenwart zu bringen und damit einerseits die Tradition zu ehren, aber auch ein neues Feuer zu entfachen, Dringlichkeit und Aktualität zu entwickeln. Deshalb möchte ich auch weiterhin Genregrenzen sprengen.

Das ist dir mit deinem Engagement als Todesengel in dem Musical „Romeo und Julia – Liebe ist alles“ in Berlin gelungen. Deine erste Musicalrolle. Wie hat sich die Arbeit bei einem Musical von der an einem Opernhaus unterschieden?
Es war eine der inspirierendsten Zeiten, die ich je hatte, muss ich sagen. Es war anstrengend und herausfordernd, aber ich hatte auch das große Glück, dass ich die Rolle schon vorher im Studio eingesungen hatte und gewisse Melodienbögen mitkreieren durfte, so dass die Rolle gesanglich wirklich auf mich angepasst wurde. Richtig krass fand ich aber meine Kollegen im Musical. Nicht nur weil sie singen und spielen, sondern aufgrund der Intensität, mit der sie spielen und singen. Im Musical gibt es so viele Farben und Möglichkeiten, man geht Risiken ein, um mit der Stimme Effekte zu kreieren und das Innerste hervorzubringen. Das habe ich mir aus dieser Zeit mitgenommen, auch in der Oper zu sagen, dass ich das Risiko eingehe und mehr Farben präsentiere. Ich möchte, dass man die Verzweiflung und das Glück aus der Stimme heraushört. Man muss doch mal Sieben gerade sein lassen und auf Emotionen setzen. Dann ist ein Ton eben nur 30 statt 40 Sekunden lang, dafür aber voller Energie und Liebe.

Nils Wanderer (Foto: Dominik Lapp)

Im Publikum bei „Romeo und Julia“ gab es Menschen, die zum ersten Mal einen Countertenor gehört haben und von deinem Gesang sehr begeistert waren. Wie man in den sozialen Netzwerken verfolgen konnte, hat das sogar Menschen, die vorher mit der Oper nichts am Hut hatten, dazu gebracht, sich Opern mit dir anzusehen. Hast du das überhaupt wahrgenommen?
Ja, habe ich. Und ich bin so dankbar dafür. Das hätte auch in eine andere Richtung gehen können, dass die Leute sagen, das ist doch ein Musical, keine Oper. Aber ich bekam nach der Show immer so tolles Feedback. Plötzlich haben Musicalfans meine Liederabende oder Opern besucht. Es macht mich sehr glücklich, dass ich diese Menschen erreichen konnte. Das hat mir mal wieder vor Augen geführt, wie unglaublich es ist, dass ich dafür bezahlt werde, singen zu dürfen. Danach habe ich noch die Mary Sunshine in „Chicago“ an der Komischen Oper gesungen. Das war sicher nicht mein letztes Musical.

Welche Musik hörst du privat? Heavy Metal wie dein Vater?
Ich höre querbeet, habe aber Künstler, die ich gerade sehr toll finde im Popbereich: Sam Smith, Billie Eilish, Kylie Minogue. Außerdem mag ich Soul und House, tanze gern zu guter Elektromucke, höre Aretha Franlin und Dinah Washington. Selbst Heavy Metal finde ich gut, wenn es eine sängerische Qualität hat. Also kein Scream Metal, davon bekomme ich Kopfschmerzen. Was ich auch nicht mag, ist Minimal, wo irgendwie nur drei Töne pro Stunde kommen. Aber egal welche Musik andere Menschen hören: Ich find’s geil, dass sie Musik hören. Wenn jemand Musik hört, bin ich happy. Ich glaube, das tut jedem Hirn gut.

Als Opernsänger singst du in verschiedenen Sprachen wie Deutsch, Englisch oder Italienisch. Gibt es eine Sprache, die du bevorzugst?
Ja, ich singe wirklich gern in meiner Muttersprache, weil es einfach direkt ist. Es verbindet mich mit dem Stück. Nun habe ich in London studiert, spreche und singe somit aber auch echt gern auf Englisch. Deshalb liebe ich Werke von englischen Komponisten. In Deutsch und Englisch baue ich sofort eine Verbindung auf. Bei Italienisch lese ich erst mal den Text und übersetze ihn. Dann beginne ich mit Aussprache und Rhythmus. Schritt für Schritt. Da bin ich also gezwungen, tiefer zu graben, um den Kern zu erreichen.

Interview: Dominik Lapp

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".