„Lear“ in Hannover (Foto: Dominik Lapp)
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Einhellig bejubelt: „Lear“ in Hannover

Es ist wohl das düsterste Werk aus Shakespeares Feder: „Lear“. Der erst vor wenigen Tagen verstorbene Komponist Aribert Reimann hat den Stoff des englischen Dramatikers in einer Oper verarbeitet, die 1978 in München zur Uraufführung kam und jetzt an der Staatsoper Hannover in einer beeindruckenden Inszenierung von Joe Hill-Gibbins zu sehen ist, die optisch wie musikalisch durchweg überzeugt.

Das Werk erzählt in einem genialen Dialoggeflecht von verschiedenen Themen wie Alter, Macht, Verlust, Wahnsinn und Familie. Einen besonderen Fokus lenkt Hill-Gibbins in seiner Inszenierung jedoch auf die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern. Das Publikum sieht einerseits, was Eltern ihren Kindern, aber auch, was Kinder ihren Eltern antun können. Das hat der Regisseur schonungslos herausgearbeitet. Er stellt das Erleben der Geschichte und der Musik in den Vordergrund, so dass sich das Publikum auf eine Reise hin zur totalen Zerstörung begibt, was sich auch im Bühnenbild von Tom Scutt widerspiegelt, das aus 300 Kartons besteht, die letztendlich in sich zusammenstürzen und an eine zerbombte Stadt erinnern.

Das passt sehr gut, weil es visualisiert, was Reimanns Musik ausdrückt, die nicht nur reiner Klang ist, sondern physische Aktion geradezu fordert. Der riesige Schlagwerkapparat, der für „Lear“ notwendig ist, passt nicht einmal in den Orchestergraben, sondern ist auf einer Erhöhung im hinteren Bühnenbereich platziert worden. Anhand dieses gewaltigen Klangkörpers sind die Emotionen und das Leiden der Figuren exzellent nachzuempfinden.

„Lear“ in Hannover (Foto: Dominik Lapp)

Hauptdarsteller dieser Oper ist im Grunde das Niedersächsische Staatsorchester unter der Leitung von Stephan Zilias. Die durchkomponierte Oper, die keine Zeit zum Durchatmen lässt, erfordert einen versierten Dirigenten, um der komplexen Partitur Reimanns gerecht wird. Zilias gelingt das zu jeder Zeit, wenn er seine Musikerinnen und Musiker souverän, besonnen und mit großem Durchhaltevermögen durch die Klangmasse manövriert. Besonders lautstarken Applaus gibt es am Ende verdientermaßen für die sieben Perkussionisten.

Die Musik ist nicht einfach, auch nicht für das Publikum, sondern herausfordernd. Die Kartons auf der Bühne korrespondieren exzellent damit. Sie können geworfen, getreten, zerrissen und zerstört werden, sind aber auch recyclebar, um neue Kartons zu produzieren. Dieser Kreislauf bildet ein wiederkehrendes Motiv, das sich genauso in der brutalen und erbarmungslosen Komposition von Aribert Reimann findet.

Dieses Erlebnis für alle Sinne erfordert zudem hervorragende Sängerinnen und Sänger. Mit Michael Kupfer-Radecky hatte man im Hausensemble offenbar eine Idealbesetzung für die Titelrolle gefunden. Leider erkrankte dieser nach der Premiere ernsthaft und muss für die restliche Spielserie vertreten werden. Ersatz zu verpflichten, war für die Staatsoper Hannover allerdings nicht einfach, da es nicht viele Sänger gibt, die diese umfangreiche Parte im Repertoire haben.

„Lear“ in Hannover (Foto: Dominik Lapp)

Letztendlich gelang es, mit Fredrik Zetterström (Gesang) und Tomas Möwes (Spiel) zwei passende Sänger zu finden. Weil Zetterström aufgrund anderweitiger Verpflichtungen die Partie nicht szenisch einstudieren konnte, singt er vom Blatt, am linken Bühnenrand stehend, während Möwes, der die Rolle bereits abgelegt hat, das Spiel übernimmt. Diese Konstellation passt so hervorragend zu dem Werk und der Inszenierung, dass es wirkt, als sei es von Anfang an so vorgesehen gewesen: Tomas Möwes spielt König Lear genauso berührend wie intensiv, Fredrik Zetterström ist der monströsen Partie gesanglich vollends gewachsen, singt farbenreich und wortverständlich.

Ein Meisterstück gelingt Countertenor Nils Wanderer, der als Edgar durch seine engelshaft hohe und sicher geführte Stimme beeindruckt. Ebenso zeichnen Yannick Spanier als König von Frankreich, Darwin Prakash als Herzog von Albany und Pawel Brozek als Herzog von Cornwall spannende Rollenbilder, während Frank Schneiders als Graf von Gloster schauspielerisch wie gesanglich glänzt. Als starkes Dreiergespann erweisen sich zudem Angela Denoke als Goneril, Kiandra Howarth als Regan und Meredith Wohlgemuth als Cordelia. Besonders Wohlgemuth zeichnet sich durch ihren glasklaren Sopran aus.

Am Ende ist die Staatsoper Hannover zu beglückwünschen für eine wunderbare und rundum überzeugende Operninszenierung, die vom leider spärlich vertretenen Publikum in der besuchten Vorstellung einhellig bejubelt wird.

Text: Dominik Lapp

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".