„1984“ (Foto: Marie Liebig)
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Opern-Wiederentdeckung: „1984“ in Regensburg

George Orwell schrieb seinen Roman „1984“ als eindringliche Warnung vor totalitären Regimes. Seine Darstellung eines Staates, in dem Cyber-Überwachung, Geschichtsrevision und Gedankenpolizei den Alltag gläserner Bürger bestimmen, ist ein zeitloses Mahnmal. Was sicherlich nur Wenige wissen: Lorin Maazel hat aus dem Stoff eine Oper gemacht, die ursprünglich von August Everding in Auftrag gegeben und 2005 in London uraufgeführt worden war. Nach weiteren Aufführungen in Mailand (2008) und Valencia (2011) wurde das Werk jetzt am Theater Regensburg für die Bühne wiederentdeckt und zur deutschen Erstaufführung gebracht.

Maazels groß angelegtes Klangpanorama hat nach seiner Uraufführung – trotz Starbesetzung mit Diana Damrau und Simon Keenlyside – keine berauschenden Kritiken erhalten, was wohl andere Häuser abschreckte, das Werk nachzuspielen. Umso erfreulicher ist, dass der Regensburger Intendant und Operndirektor Sebastian Ritschel das Werk auf den Spielplan gesetzt und direkt selbst Regie geführt, die Kostüme und das Licht entwickelt hat.

Das Libretto von J. D. McClatchy und Thomas Meehan stellt eine Nacherzählung des Orwell-Romans dar – stark verkürzt und vereinfacht. Übriggeblieben ist die angedeutete Geschichte einer gleichgeschalteten, totalitären Gesellschaft, in der der Wunsch nach Individualität ebenso hoffnungslos ist wie die Hoffnung auf Veränderung. Die Hauptpersonen in dieser Dystopie sind wie in der Buchvorlage Winston Smith und seine heimliche Geliebte Julia. Das, was das Libretto nicht hergibt, macht der Regisseur durch seine bildgewaltige Sprache wett.

Da sind nicht nur die Science-Fiction-Kostüme von Ritschel passend, sondern ebenso dessen Lichtdesign (zusammen mit Martin Stevens) sowie die Bühne von Kristopher Kempf, die von zahlreichen Gittern, Käfigstangen und Bildschirmen („Big Brother is watching you“) dominiert wird. Das Publikum erhält Einblicke in Gefängniszellen, hinter Gemälden verbergen sich Kameras, auf einer Leinwand flimmert eine Wochenschau (Video: Sven Stratmann).

Während viele Science-Fiction-Romane irgendwann überholt sind, wenn tatsächlich das Jahr erreicht ist, in dem sie spielen, wirkt „1984“ – egal ob der Roman oder die Oper – aktueller denn je. In Zeiten von Fake-News, Staatstrojanern, Vorratsdatenspeicherung und von Despoten geführten Kriegen wird hier ein erschreckend reales Bild gezeichnet.

Zu der dystopischen Grundstimmung passt hervorragend die Musik von Lorin Maazel, der sich einer sehr diffus-modernen Klangsprache bedient, die wenig melodisch und oftmals blechernd laut ist. Norbert Biermann hat die groß orchestrierte Partitur für das Theater Regensburg bearbeitet, so dass nun eine Fassung für mittelgroßes Orchester zur Aufführung kommt, die vom Philharmonischen Orchester unter der Leitung von Tom Woods sehr gut intoniert wird.

Neben dem motivierten Opern- und Cantemus-Chor (Einstudierung: Alistair Lilley und Matthias Schlier) begeistern auch die Solistinnen und Solisten. So glänzt Theodora Varga als Julia mit ihrem dramatischen Sopran, Jan Zadlo überzeugt als Winston mit großer Bühnenpräsenz und lyrischem Bariton und Anthony Webb verleiht dem Spion O’Brien einen strahlenden Heldentenor. Kirsten Labonte verzaubert mit ihren mühelosen Spitzentönen in gleich mehreren Rollen, ebenso stechen Carlos Moreno Pelizari (Syme) und Jonas Atwood (Parsons) gesanglich positiv hervor. Belohnt wird das alles mit einhelligem Applaus, den diese Opern-Wiederentdeckung definitiv verdient hat.

Text: Christoph Doerner

Nach seinem Studium der Musiktheaterwissenschaft, einem Volontariat sowie mehreren journalistischen Stationen im In- und Ausland, ist Christoph Doerner seit einigen Jahren als freier Journalist, Texter und Berater tätig.