„West Side Story“ (Foto: Johan Persson)
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Berauschend schön: „West Side Story“ auf Tour

Zwei verfeindete Gangs, Revierkämpfe, Imponiergehabe, die große Liebe. Auch 65 Jahre nach der Uraufführung hat das Musical „West Side Story“ nicht an Aktualität verloren. Die Musik von Leonard Bernstein klingt zeitlos, das an „Romeo und Julia“ angelehnte Buch von Arthur Laurents ist nach wie vor topaktuell und die aussagekräftigen Gesangstexte von Stephen Sondheim verfehlen ihre Wirkung nicht. Die „West Side Story“ steht als Klassiker des Musicalgenres deshalb noch immer weltweit regelmäßig auf den Spielplänen der Theater und ist von BB Promotion jetzt in einer Neuinszenierung von Lonny Price auf eine mehrjährige Welttournee geschickt worden – und die kann sich sehen lassen!

Dem Regisseur ist es gelungen, das Publikum in die 1950er Jahren zu entführen und die Story genauso authentisch wie realistisch auf die Bühne zu bringen. Gigantisch ist das Bühnenbild von Anna Louizos. Im Fokus steht dabei ein um sich selbst drehendes New Yorker Haus mit Backsteinfassade und den typischen Feuertreppen. Durch aufklappbare und verschiebbare Elemente wird der Blick freigegeben in das Innere des Hauses wie Marias Zimmer oder Docs Drugstore.

Im Zusammenspiel mit kleineren Bühnenelementen, Requisiten und dem stimmigen Lichtdesign von Fabrice Kebour entstehen so herrliche Szenenbilder, die die Handlung visuell unterstützen, aber die Darstellerinnen und Darsteller nicht erdrücken, sondern genug Raum lassen für die Fokussierung auf Charaktere und fantastische Tanzszenen. Alejo Viettis farbenfrohe Kostüme nach Originaldesigns der Fünfziger komplettieren mit Petticoat und Tellerrock die optische Brillanz dieses Musicals.

Julio Monge hat dazu die kongeniale Original-Choreografie von Jerome Robbins weiterentwickelt und ihr eine noch stärkere Intensität verliehen. Höhepunkte sind zum Beispiel die Nummern „Cool“ und „Dance at the Gym“ mit exzellenter Körpersprache und synchronen Bewegungen sowie die berührend schön umgesetzte „Somewhere“-Szene.

Melanie Sierra begeistert als Maria mit jugendlicher Leichtigkeit und gibt zum Ende des Stücks eine wahnsinnig traurige und gebrochene Frau. Ihre Darstellung, wenn sie in der letzten Szene verzweifelt mit dem Revolver auf einzelne Bandenmitglieder zielt, ist dabei von solch einer Intensität, dass sie zu Tränen rührt. Auch gesanglich lässt sie mit ihrem Sopran keinerlei Wünsche offen.

Jadon Webster ist als Tony schauspielerisch ebenfalls glaubwürdig. Ob nun als der mutige Held, der den Kampf zwischen den rivalisierenden Jets und Sharks verhindern will, oder als der Hals über Kopf verliebte Typ, der seiner Maria den Himmel auf Erden bereiten möchte – Webster präsentiert alle Facetten seiner Rolle perfekt, genauso wie er exzellent singt. Seine Songs, insbesondere das Solo „Maria“, interpretiert er mit glühender Inbrunst und emotionaler Strahlkraft.

Ebenso beeindruckt Kyra Sorce als Anita mit klangschöner Stimme. Ihre schauspielerischen Fähigkeiten zeigt sie vor allem in der beklemmenden Szene, in der Anita von den Jets gedemütigt und vergewaltigt wird und anschließend aus Wut den Tod Marias verkündet. Antony Sanchez ist in der Rolle des Bernardo ein herrlicher puerto-ricanischer Macho und Anführer der Sharks, während Taylor Harley als Riff genauso überzeugend den Anführer der Jets spielt. Beide Darsteller agieren extrem stark im ersten Akt, der mit einem Kampf endet, in dem beide Figuren zu Tode kommen. Als den Tod von Bernardo rächen wollender Chino glänzt Gerardo Esparza durch seine Bühnenpräsenz.

Als wahres Energiebündel mit Petticoat und Tellerrock erweist sich außerdem Laura Leo Kelly als Anybodys, die mit Körpereinsatz und großer Klappe eine beeindruckende schauspielerische Leistung zeigt und aus der kleinen Rolle alles herausholt, was herauszuholen ist. Darren Matthias gibt als Doc die gute Seele der New Yorker West Side, während Bret Tuomi als Lieutenant Schrank einen Kotzbrocken und Erik Gratton einen leicht trotteligen Officer Krupke mimt.

Das 20-köpfige Orchester wird von Grant Sturiale mit Präzision durch die anspruchsvolle Partitur von Leonard Bernstein dirigiert. Die Musikerinnen und Musiker bereiten den Sängerinnen und Sängern einen prächtigen Klangteppich, der brillant das Auditorium erfüllt und wieder einmal verdeutlicht, wie fordernd und komplex Bernsteins Komposition mit ihren harten, rhythmisch brodelnden und genauso sehnsuchtsvollen wie schmerzbelegten Melodien ist. Durch Elemente aus Swing und Jazz geht die Musik exzellent ins Ohr und klingt lange nach – so wie die gesamte Vorstellung dieser berauschend schönen Tourproduktion der „West Side Story“.

Text: Dominik Lapp

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".