„Miss Saigon“ (Foto: Johan Persson)
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Große Melodien: „Miss Saigon“ in Wien

Seit der Uraufführung vor über 30 Jahren in London vereint „Miss Saigon“ (Buch und Liedtexte: Alain Boublil in Zusammenarbeit mit Richard Maltby Jr., Musik: Claude-Michel Schönberg) als geschichtsträchtiges Epos berauschende Melodien mit einer dramatischen Liebesgeschichte. Eine Liebesgeschichte, die, ähnlich wie Giacomo Puccinis Oper „Madama Butterfly“, ihre Vorlage in der französischen Novelle „Madame Chrysanthème“ von Pierre Loti findet. Doch den weltweiten Erfolg verdankt „Miss Saigon“ nicht zuletzt seinen fantastischen Darstellerinnen und Darstellern, die über all die Jahrzehnte dem hohen Anspruch der jeweiligen Rollengestaltung gerecht wurden und mit starken Stimmen dieses Meisterwerk stets zum Leben erweckten.

So geschieht es auch derzeit in Wien, wo der Musicalklassiker (neue deutsche Übersetzung: Michael Kunze, Regie: Jean-Pierre van der Spuy nach Laurence Connor) unter dem besonderen Augenmerk von Produzent Cameron Mackintosh nach mehrmaligen pandemiebedingten Verschiebungen nun endlich Premiere feiern durfte. Das frisch sanierte Raimund-Theater erstrahlt in neuem Glanz.

Die dramatische Handlung dürfte hinlänglich bekannt sein. In den Wirren der letzten Tage des Vietnamkrieges 1975 verliebt sich das siebzehnjährige Barmädchen Kim in den amerikanischen GI Chris. Als Chris kurz darauf während der Einnahme Saigons mit dem letzten Hubschrauber zur Flucht gezwungen wird, weiß er nicht, dass Kim von ihm einen Sohn erwartet. Drei Jahre später sehen sich die beiden in Bangkok wieder, doch Kims Traum von einem sicheren Familienleben in den USA kann sich nicht erfüllen und sie sieht nur einen Ausweg.

„Die Nacht ist heiß in Saigon“ – so eröffnet sich der Club „Dreamland“ dem Publikum und gibt Einblicke in eine Welt, in der liebeshungrige und triebgesteuerte GIs ihre Befriedigung suchen, während die spärlich bekleideten Barmädchen verzweifelt alles über sich ergehen lassen, in der Hoffnung, von einer guten Seele befreit und letztendlich gerettet zu werden. „Der Film im Kopf von mir“ bietet einen frühen musikalischen Höhepunkt, als erst Gigi (Dana van der Geer), dann Kim (Vanessa Heinz) und schließlich alle jungen Frauen schmerzerfüllt ihr Leid klagen. Sie stehen unter der Fuchtel des Engineers (Christian Rey Marbella), dem zwielichtigen, geldgierigen Zuhälter und verschlagenen Besitzers des „Dreamlands“, der nur auf den eigenen Vorteil bedacht das Visum für die Vereinigten Staaten vor seinem inneren Auge tanzen sieht. In diesem Raum voll von Verzweiflung und Versuchung treffen Chris (Oedo Kuipers) und Kim erstmals aufeinander. Schnell spüren die beiden, dass etwas Besonderes zwischen ihnen liegt: Es sind die wahre Liebe und die ganz großen Gefühle, die mit einer Hochzeit nach vietnamesischem Brauch besiegelt werden. Zwischen all der Dunkelheit Saigons wirkt dies hingegen leicht und erfrischend. Als sei es die letzte Nacht der Welt, schwören sie sich in der gleichnamigen Nummer, auf ewig füreinander da zu sein.

Oedo Kuipers gelingt seine Darstellung des jungen, gut aussehenden und dennoch sehr reif wirkenden Soldaten grandios. Wie ein roter Faden zieht sich die Liebe und Hingabe zu Kim authentisch durch seine Rollengestaltung – und selbst Jahre später, als Chris mit allen Mitteln versucht, ein neues Leben fernab der Schatten der Vergangenheit zu beginnen, verfolgt sie ihn in seinen Träumen und Gedanken, was in schmerzhaften Angstzuständen sichtbar wird. Lange Zeit weiß er nicht, ob Kim überlebt hat.

„Miss Saigon“ (Foto: Johan Persson)

Obwohl Vanessa Heinz erst kürzlich ihre Ausbildung zur Musicaldarstellerin absolvierte, spielt und singt sie, als hätte sie nie zuvor etwas anderes getan. Souverän, stimmlich äußerst kraftvoll und zugleich sanft einnehmend, sowie meisterlich in Mimik und Ausdruck, interpretiert sie den anspruchsvollen Charakter der siebzehnjährigen Vietnamesin auf den Punkt. Es ist eine Rolle, für die absolute Perfektion benötigt wird. Der Wandel von der zarten, eingeschüchterten Jungfrau zur starken, selbstbewussten Frau, die um ihre Liebe kämpft und die sich wie eine Löwin vor ihren Sohn (Tyra Le) und gegen Thuy (sehr stark: James Park), dem sie einst versprochen war, stellt, meistert sie mit Bravour. Kims dramatischer Tod in Chris‘ Armen lassen einen am Ende des Abends erschüttert und aufgewühlt zurück.

Mit Ellen (Abla Alaoui) und John (Gino Emnes) hat Chris zwei starke Charaktere an seiner Seite. Alaoui kehrt mit „Miss Saigon“ zurück nach Wien und ist für den sicher nicht immer so dankbaren Part der Ellen eine Traumbesetzung. Ihre vergleichsweise wenigen Szenen füllt sie authentisch mit ausdrucksstarker, klangvoller Stimme und lässt im verzweifelten Aufeinandertreffen von Ellen und Kim im Hotelzimmer allen Gefühlen freien Lauf. Gino Emnes ist als John, Chris‘ guter Freund und Ratgeber, ein echter Gewinn dieser Wiener Inszenierung. Auch wenn John zu Beginn noch als hemmungslos getrieben wirken mag, der im Nachtclub die Mädchen vernascht, ist auch er letztendlich ein Gefangener des politischen Systems und der grausamen Wirklichkeit. Mit „Bui Doi“ (Kinder amerikanischer Soldaten und vietnamesischer Mütter) gelingt ihm im zweiten Akt ein starker Gänsehautmoment – der Moment, der letztendlich dafür sorgt, dass Chris von seinem Sohn Tam erfährt und die Storyline somit eine neue Wendung nimmt.

Die heimlichen Fäden des Stückes laufen allerdings bei jemand anderem zusammen: Es ist der Engineer, der sich schlussendlich als Onkel Tams ausgibt, um sich auf diese Art und Weise mit Kim außer Landes zu schmuggeln – definitiv nicht der sympathischste Part. Auch Christian Rey Marbella, der bereits als Engineer auf der UK-Tour sowie in mehreren Produktionen weltweit von „Miss Saigon“ mitwirkte und jetzt in Österreich sein Wien-Debüt gibt, muss sich die Sympathie der Zuschauer erst verdienen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass er vor allem zu Beginn phonetisch sehr schwer zu verstehen ist. Dennoch muss ihm großer Respekt gezollt werden, diese anspruchsvolle Rolle in einer für ihn fremden Sprache so hervorragend auszufüllen. Letztendlich sind es auch seine köstliche Darstellung und Mimik, sein durchtriebener Witz und die wunderbar passende Stimmlage, die seine schmierige, aalglatte Art perfekt machen und dafür sorgen, dass er langsam aber sicher die Herzen des Publikums gewinnt. Am Ende ist er es, der den größten Applaus mit nach Hause trägt. Vor dem tragischen Freitod Kims ist „The American Dream“ als großartige, glitzernde Shownummer einer der letzten, sich pulsierend Schritt für Schritt aufbauenden Höhepunkte des Abends.

„Miss Saigon“ unter der Wiener Regie von Jean-Pierre van der Spuy erlaubt einem als Zuschauer musikalisch gesehen keine Pause und überzeugt mit einer hohen dramaturgischen Professionalität. Schnelle, harte, aber auch sehr elegante Übergänge und Szenenwechsel, beeindruckende Choreografien (Musical Staging: Bob Avian), mit der das große Ensemble zum Leben erweckt wird, eine einwandfreie Technik mit berauschendem Bühnenbild (David Harris), effektvollen Kostümen (Andreane Neofitou, Lee Tassie), sowie das fantastische Orchester der Vereinigten Bühnen Wien unter der Leitung von Carsten Paap, sorgen letztendlich dafür, was „Miss Saigon“ ist: Ein bombastisch überladenes Epos, dem vielleicht hier und da ein „weniger ist mehr“ gut getan hätte, und das dennoch (auch nach mehr als 30 Jahren) mit den heutigen Bühnenerfolgen mithalten kann – wenn auch oder gerade aufgrund der erschreckenden Parallelen zur Gegenwart.

Bedrückende politische Systeme („Der Siegeszug des Drachens“) oder die beeindruckende, weltberühmte Hubschrauberszene, die auch im Jahr 2022 nichts an Faszination verloren hat und stark an die derzeitigen Unruhen in der Welt erinnert: Menschen, ohne Ausweg, die verzweifelt versuchen, Zäune von Botschaften einzureißen oder sich an Flugzeuge zu hängen, um zu fliehen. Gesprochene Dialoge findet man so gut wie keine. Das mag für den ein oder anderen anstrengend sein, dass alles, aber auch wirklich alles, gesungen und durchkomponiert ist. Dennoch ist „Miss Saigon“ ein Musical, das von großen Gefühlsausbrüchen lebt. Und wo finden Gefühle besser ihren Platz als in der Musik? Das stark besetzte Ensemble in Wien zeigt genau dadurch, dass es der Einklang von Musik und Emotionen ist, die dieses Stück ausmachen. Und der Traum von einer besseren Welt.

Text: Katharina Karsunke

Katharina Karsunke ist Sozial- und Theaterpädagogin, hat jahrelang Theater gespielt, aber auch Kindertheaterstücke geschrieben und inszeniert. Ihre Liebe fürs Theater und ihre Leidenschaft fürs Schreiben kombiniert sie bei kulturfeder.de als Autorin.