„Liebe stirbt nie“ in Lüneburg (Foto: Jochen Quast)
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Farbrausch trifft Kammerspiel: „Love never dies“ in Lüneburg

Dass sich das Theater Lüneburg nach dem Theater Magdeburg als zweites Haus in Deutschland an eine Non-Replica-Inszenierung von „Love never dies“ wagt, ist bemerkenswert – und mutig. Das Musical von Andrew Lloyd Webber, das seinen Welterfolg „Das Phantom der Oper“ fortsetzt, hat es nicht leicht: Mehrfach überarbeitet, weltweit nur vereinzelt gezeigt – und in Hamburg in einer auf Hochglanz polierten Produktion untergegangen. In Lüneburg gewinnt das Werk durch eine starke Besetzung, kluge Regie und ein farbenprächtiges Kostümkonzept, hat aber durchaus auch Schwächen.

Zunächst einmal erschließt sich nicht, warum das Stück unter dem englischen Originaltitel „Love never dies“ und nicht als „Liebe stirbt nie“ aufgeführt wird, obwohl auf der Bühne die deutsche (gelungene!) Übersetzung von Wolfgang Adenberg statt der englischen Originaltexte von Glenn Slater und Charles Hart zu hören sind. Darüber hinaus enttäuschen einzelne Szenenübergänge, teilweise das Bühnenbild und ausgerechnet das Markenzeichen des Phantoms – die Maske.

An der Gestaltung der weißen Maske gibt es grundsätzlich wenig auszusetzen. Was jedoch den Gesamteindruck des Phantoms erheblich stört, ist die Art und Weise, wie sie befestigt ist: mit dünnen Schnüren oder Drähten, die selbst aus Reihe 14 noch im Bühnenlicht glänzen. Solche handwerklichen Schwächen erinnern eher an eine Schultheater- als an eine Stadttheater-Produktion (und das ist nicht despektierlich gemeint, denn viele Schulaufführungen arbeiten heutzutage höchst professionell). Vielleicht hätte sich die Lüneburger Maskenabteilung ein Beispiel an der Inszenierung in Magdeburg nehmen sollen, wo die Maske durch Magnete auf der Innenseite und überschminkte metallische Pflaster im Gesicht des Darstellers sicher und unsichtbar fixiert wurde.

„Liebe stirbt nie“ in Lüneburg (Foto: Dominik Lapp)

Besser gelungen ist dafür die Inszenierung: Friedrich von Mansberg interpretiert „Love never dies“ nicht als großes, opulentes Musical-Spektakel, sondern als psychologisch fein gezeichnetes Kammerspiel – ein kluger Schachzug, der dem in sich geschlossenen Drama zwischen Christine, dem Phantom und Raoul gut bekommt. Mit feiner Personenführung bringt der Regisseur besonders die inneren Konflikte zum Leuchten, die im Buch (Andrew Lloyd Webber, Glenn Slater, Ben Elton) oft nur angedeutet werden. Die emotionale Entwicklung steht im Zentrum, das Spektakuläre wird nicht ausgeschlossen, aber gezielt dosiert.

Etwas hakelig sind jedoch vereinzelte Szenenübergänge – das geht definitiv eleganter. Schön ist allerdings der Einfall, dass hin und wieder die vierte Wand durchbrochen und der Saal mitbespielt wird. So breitet sich die skurrile Atmosphäre von Coney Island direkt im Auditorium aus.

Passend zur Intimität des Kammerspiels hat Ausstatterin Barbara Bloch ein zurückhaltendes, dabei flexibel wandelbares Bühnenbild geschaffen, das seinen Zweck erfüllt – auch wenn es stellenweise eher an Sparflamme als an große Bühne erinnert. Im Zentrum steht ein Aufbau mit Baugerüst-Brüstung, der sich als Rückzugsort des Phantoms entpuppt und sich in das Varieté-Theater von Coney Island verwandelt.

„Liebe stirbt nie“ in Lüneburg (Foto: Dominik Lapp)

Mit wenigen Versatzstücken und Requisiten entstehen weitere Schauplätze – etwa Christines Hotelzimmer, angedeutet durch rote Vorhänge, ein stilisiertes Fenster und Möbel. Der Verzicht auf visuelle Opulenz lenkt die Aufmerksamkeit zwar effektiv auf Figuren und Musik, hinterlässt jedoch gelegentlich den Eindruck, als habe das Ausstattungsbudget gerade noch fürs Nötigste gereicht – beispielsweise beim Spiegelkabinett, wo vier eingesetzte Quader wirken, als seien sie mit zerknitterter Alufolie beklebt worden.

Umso mehr darf das Kostümbild von Benjamin Burgunder glänzen. Seine fantasievollen Entwürfe lassen Coney Island in allen Farben schillern – schrill, verspielt, bisweilen fast grotesk, dabei stets treffend inszeniert. Besonders hervorzuheben sind die Outfits von Christine Daaé: Ihre opulenten Kleider changieren zwischen mondänem Glamour und tragischer Würde – man spürt förmlich die äußere Erhabenheit und die innere Zerrissenheit der Figur. Wo sie in der Hamburger Originalinszenierung den Titelsong noch im dunkelblauen Pfauenkleid sang, steht sie nun in leuchtendem Rot auf der Bühne – ein kraftvolles Bild für eine Diva, die gleichermaßen strahlt und zerbricht.

Musikalisch ist die Aufführung ein Fest. Christoph Bönecker leitet die Lüneburger Symphoniker mit präziser Hand und viel Gefühl. Die Musik von Lloyd Webber – bei „Love never dies“ oft unterschätzt – offenbart in dieser Interpretation ihre ganze emotionale Spannweite: die düsteren, drängenden Klänge des Phantoms, das träumerische Leitmotiv Gustaves, der bittersüße Titelsong – all das wird zu einer klanglichen Achterbahnfahrt zwischen Sehnsucht, Wahnsinn und Hoffnung. Einziger Wermutstropfen: Die Interpretation des rockigen Songs „Wo die Schönheit sich verbirgt“ („The Beauty underneath“) klingt extrem synthetisch.

„Liebe stirbt nie“ in Lüneburg (Foto: Dominik Lapp)

Sängerisch und schauspielerisch lässt die Produktion keinerlei Wünsche offen. Thomas Borchert ist ein imposantes, verletzliches, zutiefst menschliches Phantom. Mit seiner markanten Stimme und einer intensiven Bühnenpräsenz verleiht er der Figur, die ihren emotionalen Höhepunkt in der Schlussszene findet, eine starke Kontur. Navina Heyne als Christine brilliert einerseits stimmlich mit einem leuchtenden, souverän geführten Sopran, aber ebenso darstellerisch: Ihr Zwiespalt zwischen Pflichtgefühl, Schuld und alter Liebe ist jederzeit spürbar. Oliver Arno als Raoul gelingt es, der buchbedingt undankbaren Rolle Würde und eine klangschöne Stimme zu verleihen.

Kirsten Patt als kühle, kontrollierte Madame Giry und Kara Kemeny als ihre Tochter Meg überzeugen beide mit nuanciertem Spiel und starken Stimmen – vor allem Megs tragischer Moment gegen Ende des Stücks gewinnt in Lüneburg an beklemmender Intensität. Das skurrile Trio der Jahrmarktmenschen – Squelch (Steffen Neutze), Gangle (Sascha Littig) und Fleck (Sarah Hanikel) – ist stimmlich und szenisch ebenfalls hervorragend eingebunden. Und schließlich Anneke Kramer als Gustave: Die junge Darstellerin spielt und singt die Rolle mit einer solchen Natürlichkeit und Klarheit, dass es schwerfällt, nicht berührt zu sein.

Insgesamt gelingt dem Theater Lüneburg mit „Love never dies“ ein kleines Wunder: Es verwandelt ein Musical, das oft belächelt oder vorschnell abgeschrieben wird, in ein berührendes und musikalisch starkes Bühnenerlebnis. Wer sich auf die neue Lesart des Kammerspiels einlässt, wird – trotz der erwähnten Abstriche – mit einem ebenso klugen wie aufwühlenden Abend belohnt.

Text: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".