
Besser als sein Ruf: „Liebe stirbt nie“ in Hamburg
Ein Rauschen geht durch den Blätterwald, eher ein Sturm der Entrüstung. Er gilt dem Musical „Liebe stirbt nie“, der Fortsetzung von Andrew Lloyd Webbers Bühnenerfolg „Das Phantom der Oper“, das jetzt im Operettenhaus Hamburg seine Deutschlandpremiere feierte.
Wenig feierlich klingt allerdings das, was man darüber liest: Das Urteil von Stefan Grund in der „Welt“, man habe es hier mit einem „Musical von der Resterampe“ zu tun, ist da nur die überspitzte Spitze des Eisbergs. Verblüffend viel Aversion wird da zusammen mit der Tinte zu Papier gebracht. Vieles davon ist grotesk überzeichnet – was schlimm ist. An anderen Stellen werden falsche Schlüsse aus richtigen Erkenntnissen gezogen – was ungleich schlimmer ist.
Oder es werden gleich Tatsachen bemängelt (wie etwa eine banale, konstruierte Handlung), die weit eher genrebedingt bzw. auf die Entwicklung des Mediums Musical zurückzuführen, keinesfalls aber neu und schon gar nicht speziell diesem Stoff anzulasten sind. Und immer wieder geistert der arg bemüht wirkende Eindruck von „Phantomschmerz“ durch die Zeilen. Nun haben weder der Komponist noch die Produktionsfirma eine Ehrenrettung nötig, doch trotzdem gilt es, die Dinge ein wenig ins rechte Maß zu rücken.

In einem Satz: „Liebe stirbt nie“ ist wahrscheinlich das Beste, was Stage Entertainment seit „König der Löwen“ nach Hamburg gebracht hat: Opulenter und bildgewaltiger als „Rocky“, musikalisch dichter und spannender als „Das Wunder von Bern“ lässt es die Wiederaufnahme des ersten Teils in der Neuen Flora als Verlegenheitsinszenierung erscheinen – die sie, um die Dinge beim Namen zu nennen, irgendwie immer war: eine nette Vorbereitung auf das nächste große Ding. Nicht weniger. Aber eben auch nicht sehr viel mehr. Andrew Lloyd Webber hat mit diesem Stück ein hübsches Oratorium (kein Requiem!) für sein „Phantom“ geschrieben. Nicht mehr. Aber eben auch nicht sehr viel weniger.
Deutlich ist zu hören, wie sehr er in den letzten drei Dekaden kompositorisch und dramaturgisch gereift ist. Ein ums andere Mal werden Wendungen in der Handlung frühzeitig vorbereitet und am Ende konsequent ausgeführt. So etwa, wenn Christine ihrem Sohn bei der Ankunft in Coney Island – zugegebenermaßen etwas arg klischiert – einschärft, sich nicht auf den äußeren Anschein zu verlassen, da man nur mit dem Herzen gut sähe. Und es Gustave erst auf diese Weise gelingt, seinen richtigen Vater schlussendlich anzunehmen.
Man kann die Entscheidung des Marketings, das Sequel als das zu verkaufen, was es ist (als „Phantom II“ nämlich), so platt finden, wie man will: Sie kommt auf den Punkt und erfüllt ihren Zweck, denn jede Alternative wäre nicht annähernd so publikumswirksam und verkaufsfördernd. Man kann den Mangel bemängeln an Melodien, die verfangen – aber eben nur dann, wenn man unterstellt, dass es dem Komponisten genau darum gegangen wäre. Dies ist, deutlich hörbar, nicht der Fall. Im Gegenteil löst Teil zwei über weite Strecken das ein, was Teil eins bestenfalls versprochen hatte: Er ist eine Rockoper – mit der Betonung auf Oper. Und die kommt selten leichtfüßig und massenkompatibel daher.
Darum und nur darum wird der Titelsong, im Übrigen exzellent dargeboten von Rachel Anne Moore, in seiner fast schon popmusikalischen Banalität als Fremdkörper empfunden. Darum und nur darum hört man, als konsequente Weiterführung der Grundidee, vergleichsweise viel belcantohaftes Vibrato auf der Bühne – und vergleichsweise wenig beißendes Belting. Ja, das scheint nicht ganz zeitgemäß, ist aber gerade deswegen erstaunlich mutig, wenn nicht gar applauswürdig.

Man kann das womöglich etwas zu hölzerne Spiel des Hauptdarstellers Gardar Thor Cortes kritisieren – aber nur dann, wenn man völlig außer Acht lässt, dass er seine Performance komplett in die Stimme legt. Und die nimmt einen von den ersten Sekunden an ein: Wenn er in der Ouvertüre, an der Orgel sitzend und sich der Vergangenheit entsinnend, in höchsten Höhen den Weg vom brüchigsten Piano bis zum strahlendsten Forte mit einer beachtlichen Leichtigkeit nimmt, erhält man eine deutliche Ahnung davon, warum das Phantom, all seiner physiognomischen Versehrtheit und erpresserischen Methoden zum Trotz, noch nach zehn Jahren für Christine der Engel der Muse ist: Eine Frau mit Geschmack interessiert sich ausschließlich für das Talent.
Und Talente gibt es einige zu bewundern auf der Bühne – akrobatische und stimmliche gleichermaßen. Ina Trabesingers besondere Stimmfarbe (noch so eine mutige Entscheidung) mag nicht jedermanns Geschmack treffen, für ihre Verkörperung der Meg Giry ist sie ein Gewinn in all ihrer herrlichen Überspanntheit. Kim Benedikt, im Knabenchor der Dortmunder Chorakademie solistisch tätig, stemmt beherzt den überaus anspruchsvollen Part Gustaves, des gemeinsamen Sohnes von Christine und dem Phantom. Masha Karell bietet eine grundsolide Madame Giry. Einzig Yngve Gasoy-Romdal als Raoul bleibt ein wenig farblos: Den spielsüchtigen Trinker, der zwischen ehrlicher Liebe, falschem Selbstmitleid und eifersüchtiger Raserei taumelt, füllt er (noch) nicht gänzlich aus.
Am 21. Oktober 2015, so wollte es die Popcorn-Realität des Kinos, werden Marty McFly und Doc Brown im Delorean bei uns aufkreuzen. Da passt es doch ganz gut, dass „Liebe stirbt nie“ eine der wenigen Fortsetzungen seit „Zurück in die Zukunft II“ ist, die besser ist als das Original. Ob sie auch besser ankommt beim Publikum, sei dahingestellt, darf sogar bezweifelt werden. Doch allen Unkenrufern und voreiligen Nachrufschreibern zum Trotz: Wenn diesem Musical in Hamburg keine lange Lebensdauer beschieden sein sollte, so läge dies nicht an einem Zuwenig an Qualität. Sondern weit eher an einem Zuviel.
Text: Jan Hendrik Buchholz