„Heiße Ecke“ (Foto: Nathalie Kroj)
  by

Seit 20 Jahren Speed-Dating mit St. Pauli: „Heiße Ecke“ in Hamburg

Mit einem festen Spielort seit 20 Jahren auf der Hamburger Reeperbahn und mittlerweile mehr als 5.200 Vorstellungen kann man das St.-Pauli-Musical „Heiße Ecke“ schon als Kult auf dem Kiez bezeichnen.

Bis Anfang der Neunzigerjahre war „Zur heißen Ecke“ noch als legendärer Schnellimbiss gegenüber der Polizeistation Davidwache bekannt, an welchem sich sogar die Beatles bei ihrem Hamburg-Besuch gestärkt haben sollen. 2003 wurde die „Heiße Ecke“ zumindest musikalisch wiederbelebt, denn seitdem wird das Stück mehrmals die Woche im Schmidts Tivoli aufgeführt. Zum runden Geburtstag ließ es sich das Produktionsteam aus Komponist Martin Lingnau, Buchschreiber Thomas Matschoß, Songtexter Heiko Wohlgemuth und Regisseur Corny Littmann nicht nehmen, die 5205. Vorstellung als große Geburtstagsgala mit geladenen Gästen zu feiern.

Aber was macht die „Heiße Ecke“ zum erfolgreichen und anscheinend zeitlosen Musicalhit? Mittelpunkt ist der gleichnamige Imbiss, der für 24 Stunden zentraler Schauplatz des Stücks wird. Am Abend Startpunkt für Junggesellen- und Junggesellinnenabschiede oder den Glücksspieler Knud, der endlich seine Chance zum großen Gewinn wittert, in der Nacht Pausenort für die Prostituierten, die von ihrem Alltag zwischen Sex und Sonderangeboten bei Aldi berichten, am Morgen Haltepunkt der Müllmänner, die den Unrat der Nacht beseitigen und am Mittag Bühne des Koberers Manni, der sich an seine früheren Boxerfolge zurückerinnert.

An der „Heißen Ecke“ trifft jedes Schicksal und jede Persönlichkeit zusammen und immer sind die Imbissverkäuferinnen Margot und Hannelore Zeuginnen davon. Das Musical ist somit ein Speed-Dating mit den zahlreichen Charakteren, die sich auf St. Pauli und seiner prominentesten Straße, der Reeperbahn, tummeln, denn die neun Darstellenden schlüpfen pro Vorstellung in über 50 Rollen. Während der Geburtstagsvorstellungen ist das Speed-Dating sogar wörtlich zu verstehen, denn in diesen drei Vorstellung kommt man in den Genuss, alle 20 aktuellen Besetzungsmitglieder in unterschiedlichen Rollen auf der Bühne zu erleben.

Die Produzenten selbst bezeichnen ihr Stück als eine Liebeserklärung an St. Pauli – und es ist ihnen wahrhaft gelungen, ihr Musical genauso wie den Ort wirken zu lassen: schnelllebig, bunt, immer auf der Grenze zwischen Aufstieg und Absturz, aber mit großem Herz. Schon das Bühnenbild (Bader El Hindi) lässt kaum einen Unterschied zwischen dem Kiez vor der Tür und im Theater erkennen. Der Imbiss nimmt die zentrale Position der Bühne ein und ist umgeben von blinkenden Leuchtreklamen für Shops und Etablissements, überquellenden Mülleimern, einem China-Imbiss und Laternen für die Prostituierten. Gepaart mit einem für jede Szene passenden Lichtdesign gelingt es mühelos einzutauchen. Trotz der zahlreichen auftretenden Rollen tritt beim Zuschauer keine Überforderung ein, die zentralen Figuren wiederzuerkennen. Es ist vielmehr spannend zu beobachten, wie sich die Wege unterschiedlicher Charaktere unerwartet kreuzen und sich die Schicksale gegenseitig und oft auch unbewusst beeinflussen.

„Heiße Ecke“ (Foto: Nathalie Kroj)

Da zum Jubiläum alle aktuellen Künstlerinnen und Künstler gemeinsam auf der Bühne stehen und beim Finale sogar noch von zahlreichen Ehemaligen unterstützt werden, wird an dieser Stelle darauf verzichtet, Einzelleistungen hervorzuheben. Die Energie und Spielfreude des gesamten Ensembles, die schillernde Fassade von St. Pauli zu erschaffen, ist ausnahmslos zu loben. Dabei sei noch eine kleine Ausnahme für ein besonderes Lob erlaubt, denn Kathi Damerow gehört von Beginn an zum Ensemble der „Heißen Ecke“ und feiert somit auch ihr eigenes Jubiläum. Ihre kauzige Darstellung der Imbiss-Spätschicht Margot ist ein eigenes kleines Highlight der Show.

Ergänzt wird das Ensemble bei der Geburtstagsvorstellung auf der Bühne von prominenten Gastauftritten. So schaut Koch Tim Mälzer vorbei und versucht hinter das Geheimnis der legendären Currysauce zu kommen, Tetje Mierendorf und Ralph Morgenstern lassen sich überreden, mal ins Striplokal „Red Banana“ zu schauen, Funny Funtastic führ ihre Kieztour an der „Heißen Ecke“ vorbei und Annett Louisan stimmt die ersten Takte nach der Pause an.

All diese prominente Unterstützung ist für gewöhnlich jedoch gar nicht nötig, da die Lieder vom Duo Lingnau/Wohlgemuth genügend Ohrwurm-Qualität aufweisen. Von Balladen, Liebesduetten und Mitklatschnummer ist alles dabei. Vor allem der Opener des zweiten Aktes „Ankerplatz St. Pauli“ und der wiederkehrende Song „Reeperbahn“ dürften am längsten im Gedächtnis bleiben. Zum 20-jährigen Jubiläum wurde auch eine neue CD mit allen Liedern produziert, deren Verkaufspreis zu 100 Prozent an das Hospiz Hamburg Leuchtfeuer geht. Während andere Produktionen auch mit dem Merchandising auf eine maximale Gewinnspanne setzen, zeigt das Schmidt Theater, dass sie ein echtes Stück Hamburg nicht nur auf die Bühne bringen, sondern auch sozial unterstützen.

Insgesamt ist es dringend zu empfehlen, der „Heißen Ecke“ bei einem Hamburg-Besuch einen Besuch abzustatten – sei es als musikalischer Einstieg für eine lange Nacht auf der Reeperbahn oder zum Abschied des Kiezwochenendes. Corny Littmanns Denkmal für St. Pauli im historischen Verzehrtheater lohnt es, sich bereit zu machen für einen Abend voller teils platter Witze, die jedoch nirgends besser wirken als genau dort, am Ort des Geschehens.

Text: Nathalie Kroj

Nathalie Kroj sammelte Erfahrungen bei thatsMusical und Musical1, bevor sie als Autorin zu kulturfeder.de kam, um hier ihre Leidenschaft für Musicals mit dem Schreiben zu verbinden.