„Flammen“ (Foto: Tim Müller)
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Geniestreich in Schwarzweiß: „Flammen“ in Hildesheim

Böse Zungen behaupten gern, Musical sei so kommerziell. Mitnichten. Das Gegenteil beweist das Theater für Niedersachsen in Hildesheim gerade mit der deutschsprachigen Erstaufführung des Musicals „Flammen“. Der Psychothriller aus der Feder von Stephen Dolginoff (Buch, Musik und Text) wird nicht im Theater aufgeführt, sondern in der Industriekulisse einer ehemaligen Geldschrank-Fabrik. Kein klassisches Guckkastentheater, sondern ein 360-Grad-Erlebnis, das Regisseurin Pascale-Sabine Chevroton mit einfachen Mitteln stark in Szene gesetzt hat – ein Geniestreich in Schwarzweiß!

Nahezu jeder Winkel der alten Fabrik wird bespielt, selbst der Außenbereich wird mit einbezogen. Gespielt wird vor der Fabrik, in der Fabrik auf einer kleinen Bühne, auf einer Stahltreppe, einer Galerie, in einem Büroraum und sogar inmitten des Publikums. Es gibt keinerlei Umbauten, die Szenen gehen fließend ineinander über wie bei einem Film. Pascale-Sabine Chevroton zeigt das Stück im Stil eines Films noir, die gesamte Ausstattung von Anna Siegrot – mit Ausnahme von einem Strauß roter Rosen – sind in Schwarz, Weiß und Grau gehalten, auch die Requisiten und das Make-up der Mitwirkenden.

In rund 90 Minuten erlebt das Publikum einen von hellen und dunklen Kontrasten gezeichneten Psychothriller, der sich irgendwo zwischen Filmen wie „Der dritte Mann“ und „Psycho“ befindet – spannend von der ersten bis zur letzten Minute. Dabei vergisst man schnell, dass man sich in einer Musicalvorstellung befindet, weil die Zuschauerinnen und Zuschauer zu voyeuristischen Begleiterinnen und Begleitern werden, den Handelnden immer auf den Fersen.

Obwohl die Inszenierung wirkt wie ein Film aus den 1950er Jahren, gibt es moderne Komponenten wie E-Mails und Mobiltelefone, die durchaus zu dem 2013 uraufgeführten Musical passen und die Ästhetik der Inszenierung keinesfalls stören. Alles wirkt vielmehr wie aus einem Guss. Wo auf gängige Theatermittel wie Seilzüge, Vorhang und Bühne verzichtet werden muss, kommen andere Mittel zum Einsatz. Wenn es zum Beispiel regnet, perlt von außen echtes Wasser an den Fenstern der ehemaligen Fabrik hinunter. Schon optisch macht „Flammen“ deshalb unglaublich viel Spaß.

Der starken Inszenierung liegt aber auch ein nicht weniger starkes Buch von Stephen Dolginoff zugrunde. Wie schon bei seinem Vorgängerstück „Thrill me“, versteht es Dolginoff exzellent, einen dramaturgisch ansprechenden und spannenden Plot zu stricken und diesen in überzeugenden Dialogen und Songtexten zu transportieren, die von Bernd Julius Arends hervorragend übersetzt wurden. Dazu hat Stephen Dolginoff eine eingängige und zweckdienliche Musik komponiert. Vor allem der Song „Die Nacht als es brannte“ bleibt dabei dank Reprisen positiv in Erinnerung.

Für die musikalische Umsetzung benötigt es nicht mehr als Andreas Unsicker am Klavier, der wie ein Barpianist die Szenen untermalt und dabei selbst zum unverzichtbaren Teil der Handlung wird, weshalb er auch mit Kostüm und Make-up ausgestattet wurde. Die größte Last des Abends tragen jedoch eine Schauspielerin und zwei Schauspieler: Lara Hofmann als Meredith, Daniel Wernecke als Eric und Johannes Osenberg als Edmond.

Sie alle gehören dem hauseigenen Musicalensemble an und müssen an dieser Stelle besonders für ihre große Schauspielkunst gelobt werden. Sie alle singen auch fantastisch. Aber was sie schauspielerisch leisten, ist schlichtweg atemberaubend. Das ganze Stück steht und fällt mit diesen drei Menschen. Und obwohl es insgesamt zwölf Songs gibt, lassen Hofmann, Wernecke und Osenberg keinen Zweifel daran, dass sie „Flammen“ auch ohne die Musik, ohne ihren Gesang erzählen könnten. Sie schaffen es, äußerst starke Rollenprofile zu zeichnen und das Publikum durch ihr kongeniales Zusammenspiel bis zum Schluss zu fesseln. Ein besonders wertvoller Musicalabend!

Text: Dominik Lapp

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".