„Chicago“ (Foto: Katharina Karsunke)
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Außerordentlich gelungen: „Chicago“ in Berlin

In diesem Jahr feiert die markante, zeitlose Revival-Produktion des berühmten Vaudeville-Musicals „Chicago“ ihr 27-jähriges Bestehen am Broadway. Es ist die allseits bekannte Version mit einer Cast in sexy, verruchten, knappen Kostümen und einer schmissigen, jazzigen Band auf der Bühne, die das Original aus den 1970er Jahren ersetzte und somit seit 1996 zum Welterfolg wurde. Doch auch immer wieder neue Inszenierungen des Musical-Klassikers (Buch: Fred Ebb und Bob Fosse, Musik: John Kander, Liedtexte: Fred Ebb, Deutsch: Erika Gesell und Helmut Baumann) bahnen sich ihren Weg in die Bühnenlandschaft – wie zum Beispiel 2019 in Magdeburg, 2020 in Bremerhaven, 2021 in Bonn oder jetzt ganz aktuell und frisch an der Komischen Oper Berlin unter der Federführung von Star-Regisseur Barry Kosky. Es ist die große Kunst, den Weg für eine neues „Chicago“ zu ebnen, das funktioniert und genauso begeistert wie das Original und im frischen Gewand nichts von seinem ursprünglichen Charakter vermissen lässt. In Berlin ist das außerordentlich gelungen.

Sobald man im Berliner Schillertheater (die Interimsspielstätte für die sich aktuell in Renovierung befindende Komische Oper) den Saal betritt, wird eines deutlich: Der Orchestergraben ist dankbar gut bestückt mit dem Orchester der Komischen Oper Berlin (Musikalische Leitung: Adam Benzwi), was vermuten lässt, dass es keine Band auf der Bühne geben wird. Als sich anschließend der schwarze Vorhang hebt und somit freien Blick auf die Kulissen (Bühne: Michael Levine) bietet, bestätigt sich dieser Verdacht und man wird zugleich Zeuge eines wahrlich großen, wandelbaren Gittergerüsts, auf dem sich Hunderte von Glühbirnen (Licht: Olaf Freese) wiederfinden. Ein unglaublich fantastischer Anblick, als diese während des Openings im Wechselspiel zu strahlen beginnen, so dass man bereits in diesen ersten Minuten von einem Highlight der Inszenierung sprechen kann. Sehr gelungen durch Regie und Ausstattung, so das Publikum direkt in den Bann zu ziehen und für den Rest des Abends nicht mehr loszulassen.

Ruth Brauer-Kvam und Katharine Mehrling als reuelose Mörderinnen Velma Kelly und Roxie Hart sind ohne Zweifel die Stars des Berliner Premierenabends. Beiden gelingt es hervorragend einzeln, aber auch im Zusammenspiel, die nötige Prise Verruchtheit und Dreck in ihre Stimme zu legen und mit schnoddriger Direktheit, Naivität und letztendlich biestigem Selbstbewusstsein ihren Charakteren eine ganz eigene, persönliche Note zu geben.

Brauer-Kvam überzeugt bereits in den ersten Minuten mit der berühmten Nummer „All der Jazz“. Es ist ein anderes Opening, als man es von der klassischen „Chicago“-Version gewohnt sein mag, und dennoch zeugt es von so einem edlen Glanz, dass man in diesem Moment nur eines denken kann: Die mit Glühbirnen bestückte Bühne gehört Velma Kelly herself, als sie, umgarnt von Tänzerinnen und Tänzern im Federgewand (fantastische Choreografie: Otto Pichler), den Abend eröffnet. Stimmlich enorm kraftvoll und markant sowie mit der richtigen Schippe Humor und Sarkasmus, kreiert die österreichische Schauspielerin im späteren Spiel eine Mörderbraut, die sich sehen lassen kann.

Ihr gegenüber, oder zum Schluss notgedrungen an der Seite, steht Katharine Mehrling. Mehrling, die immer wieder (zu recht!) ein Zuhause in der Komischen Oper findet, ist für Roxie Hart wahrlich eine Idealbesetzung. So kokett, blond und naiv, wie sie scheinen mag, hat ihre Roxie es faustdick hinter den Ohren und reißt das Geschehen an sich. Ihr gelingt es, den Spieß mit einer Leichtigkeit umzudrehen, so dass das durchtriebene Biest in ihr erwacht. Ein klimpernder Augenaufschlag, eine gute Story, ein bisschen Presse und Glück mit den Kontakten – so einfach kann es sein, sich, ohne Rücksicht auf Verluste und nur auf den eigenen Vorteil bedacht, ins rechte Licht zu rücken. Auch damals schon, in einer Zeit ohne Social Media und Co. Ihre markante, ausdrucksstarke, leicht verruchte Stimme ist vielseitig einsetzbar und Mehrling schöpft hier erneut in voller Bandbreite dankbar aus ihrem gesanglichen und schauspielerischen Repertoire und Können.

Doch was wäre ein Cook-County-Gefängnis ohne Mama Morton, die sicher teilweise etwas mehr als nur mütterliche Zuneigung für ihre Küken empfindet und zudem einen florierenden Alkoholhandel hinter den Knastmauern betreibt? Mama erledigt alles für ihre Mädchen – wenn sie nur das richtige Kleingeld springen lassen. Andreja Schneider, die auch zeitweise als Erzählerin fungiert, ist eine wunderbare Mama Morton. Hier stimmt einfach alles: ihre famose, durchdringende Gesangsstimme, jeder Augenaufschlag, jedes innerliche Kopfschütteln, jede Berührung. Sie zeigt mit „Bist du gut zu Mama“ eindeutig, wer der Boss im Knast ist und dass weder Velma noch Roxie ohne sie etwas leisten können.

Ähnlich verhält es sich mit Staranwalt Billy Flynn, der ganz hervorragend dargestellt wird von Jörn-Felix Alt. Schmieriger, geleckter und selbstgefälliger geht es kaum noch, als er schon bei seinem ersten Auftritt („Ich bin nur für Liebe da“) zwischen all den blinkenden Glühbirnen im süffisanten Tonfall auf einem rot leuchtenden Herz herabgelassen wird. Ivan Tursic gibt einen berührenden Amos Hart, von Roxie einerseits liebevoll, andererseits verhöhnend Schusseldussel genannt, der darunter leidet, dass er wahrscheinlich immer „Mr. Zellophan“ bleiben wird. Man möchte ihn am liebsten in den Arm nehmen, gestaltet er diesen Charakter doch so authentisch und mitfühlend. Auch Hagen Matzeit legt als Klatschreporterin Mary Sunshine, die ihre Nase überall reinsteckt, einen stimmlich wie schauspielerisch beeindruckenden Auftritt hin, hat das Publikum am Ende des Abends auf seiner Seite und sorgt für begeisterten Applaus.

Ensemble und Tänzer, oftmals in schillernden Kostümen (Kostüme: Victoria Behr), sind ebenfalls hervorzuheben, umrahmen sie die Protagonistinnen und Protagonisten doch auf sehr schmeichelnde Art und Weise und formen, oftmals dankbar unterstützt durch Chor und Statisterie, das passende Szenario auf der Bühne. Besonders zu erwähnen sind hierbei Nummern wie der bekannte „Zellenblock-Tango“, als die jungen Mörderinnen des Cook-County-Gefängnisses dem Publikum mehr oder weniger reuevoll ihr Leid klagen. Während sich die Hauptakteurinnen im Vordergrund bewegen, sind zahlreiche Insassinnen im Hintergrund zu sehen, in orangefarbenen Satinmänteln (farblich angelehnt an amerikanische Gefängniskluften) über der knappen Wäsche, umrahmt von Gitterstäben und Hunderten von Glühbirnen. Das i-Tüpfelchen auf der Bühne sind riesige, ebenfalls mit Lichtern bestückte Murder-Buchstaben, die dem ganzen noch mehr Nachdruck und, ja, auch Glamour im schäbigen Knast verleihen.

Doch hinter den Glühbirnen findet sich die knallharte Realität – Gitterstäbe und die Abgründe des Gefängnisses, so weit das Auge reicht. Auch andere Massenszenen, wie der Auftritt der Presse oder die Verhandlung Roxie Harts werden somit durch die vielen Darstellerinnen und Darsteller wunderbar unterstützt und bildlich vervollständigt. Ein großartiger Einfall ist hierbei, überdimensionale Münder zu verwenden, die ein weiterer Hingucker des Abends sind. Welch ein Geschenk, dass ein Musical wie „Chicago“, das ja doch auch aufgrund seiner minimalistischen Ausstattung berühmt geworden ist, auch so verstärkt hervorragend funktionieren kann.

Deshalb muss neben der gelungenen Besetzung in dieser Inszenierung das größte Augenmerk auf die fantastische und zugleich unheimlich kluge Inszenierung Barry Koskys gelegt werden. Kosky lässt es sich nicht nehmen, ein weiteres Musical (zuletzt „La Cage aux Folles“) auf die Bühne der Komischen Oper zu holen. Man könnte fast davon sprechen, dass er den Broadway nach Berlin gebracht hat. Wer „Chicago“ in seinem Original liebt, wird auch von Koskys Form begeistert sein. Ihm ist es geglückt, ein neues „Chicago“ zu schaffen, was dennoch nichts von seinem Ursprungscharakter verliert. Zudem ist es sicherlich eine Inszenierung, die ebenfalls die Zuschauerinnen und Zuschauer begeistern kann, die mit dem minimalistischen „Chicago“ eher weniger anfangen können. Dies liegt nicht zuletzt mit an der klugen, kurzweiligen Regieführung, die keinerlei Lücken oder Langatmigkeit aufkommen lässt. Auch die Herausforderung, eine riesige Bühne zu bespielen, auf der sich in diesem Fall keine Band wiederfindet, mit der die Darstellerinnen und Darsteller interagieren können, sondern sich diese mehr als einmal allein behaupten müssen, gelingt grandios. Keiner wirkt hier verloren oder gar fehl am Platz.

Das Orchester unter der Leitung von Adam Benzwi vertont beschwingt die wunderbare Partitur John Kanders und holt auch, hauptsächlich aufgrund der dominierenden Blasinstrumente, auf diesem Weg ein kleines Stück Broadway in die deutsche Hauptstadt. Es sind Einflüsse des Jazz, Zirkus, aber auch des Tangos sowie die Mischung aus Vaudeville, Burlesque und Varieté, die die Musik von „Chicago“ so besonders und unvergleichlich machen – man könnte fast schon sagen, man wird zurückkatapultiert in die verruchten und dreckigen, aber auch goldenen 1920er Jahre im düsteren und zugleich glanzvollen Chicago.

An der Komischen Oper Berlin ist dieses Musical die perfekte Mischung aus schwarzem Humor, einer ordentlichen Prise Bösartigkeit sowie Direktheit und zugleich schillernder, mitreißender Showelemente. Das Premierenpublikum spendiert verdientermaßen Standing Ovations und Bravorufe, denn der Broadway ist definitiv in Berlin angekommen.

Text: Katharina Karsunke

Katharina Karsunke ist Sozial- und Theaterpädagogin, hat jahrelang Theater gespielt, aber auch Kindertheaterstücke geschrieben und inszeniert. Ihre Liebe fürs Theater und ihre Leidenschaft fürs Schreiben kombiniert sie bei kulturfeder.de als Autorin.