
Mit kleinen Mitteln groß in Szene gesetzt: „Carrie“ in Berlin
Das Musical „Carrie“ von Michael Gore (Musik), Lawrence D. Cohen (Buch) und Dean Pitchford (Songtexte), basierend auf Stephen Kings gleichnamigem Thriller, floppte bekanntermaßen am Broadway und wurde dort nach nur wenigen Shows abgesetzt. Nach einer grundlegenden Überarbeitung, die sich der ursprünglichen Vision der Macher wieder annähert, wurde das Stück bewusst für kleinere Bühnen konzipiert – und kommt nun vor allem Hochschulen und Theatern mit jugendlichen Ensembles zugute, die den Schatz dieses Stückes entdecken und „Carrie“ nicht in den ewigen Jagdgründen verschwinden lassen möchten. So auch Stageink / Stagies Berlin, der freie Musicalverein, der größtenteils von Spenden lebt und in dem höchst talentierte Menschen Theater spielen, singen und tanzen, während sie in ihrem alltäglichen Geschäft ganz anderen Aufgaben nachgehen. Das Interesse an dem Musicalthriller, der so erschreckend zeitlos ist und beinahe als Kult betitelt werden kann, bleibt auf jeden Fall ungebrochen.
„Carrie“ erzählt die Geschichte (Übersetzung: Martin Wessels-Behrens und Judith Behrens) eines schüchternen Mädchens, das in der Schule zutiefst gemobbt und parallel zu Hause von seiner fanatisch religiösen Mutter unterdrückt und klein gehalten wird. Als Carrie durch Zufall ihre telekinetischen Fähigkeiten entdeckt, wendet sich das Blatt und ein spannender, blutiger Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Buch- und Musikvorlage sind anspruchsvoll und bieten unendlich viel Potenzial, sich schauspielerisch und musikalisch zu entfalten. Zugleich sind die behandelnden Themen – Mobbing, Ausgrenzung, (häusliche) Gewalt, Tod – höchst aktuell und sollten daher viel mehr Beachtung finden und in Szene gesetzt werden.
Was Stageink innerhalb des letzten Jahres, mit größtenteils nur einem Probentag pro Woche unter der Regie von Matthias Busch, auf die Beine gestellt hat, ist absolut bravourös. Denn im Gegensatz zu professionellen Produktionen haben sie hier nicht die Möglichkeit, ohne Pause am Stück zu proben und Unterstützung in sämtlichen Sparten zu erhalten. Kostüme, Bühnenbild, Fotos, Social Media – alles entsteht aus den eigenen Reihen und die Ressourcen sind begrenzt. Dazu eine Rollenbesetzung, die wirklich nicht besser hätte sein können, gilt es doch die schwierige Thematik und die teils sehr anspruchsvollen Gesangsparts glaubhaft zu interpretieren.
Carrie White wird am Premierenabend verkörpert von Francesca Valetta – und das auf ganz fantastische Art und Weise. Von der ersten Sekunde an kauft man ihr das unterdrückte, gehänselte Mädchen ab, das eigentlich nur dazugehören möchte, aber sowohl von ihren Mitschülerinnen und -schülern als auch von ihrer fanatischen Mutter so viele Steine in den Weg gelegt bekommt, dass sie letztendlich sich selbst ganz klein zu fühlen beginnt. Valettas Körperhaltung und Mimik sind exzellent, dazu eine außergewöhnlich starke, eindringliche Stimme, die direkt aufhorchen lässt. Auch gelingt ihr der Wandel zur selbstbewussten jungen Frau, als Carrie ihre telekinetischen Fähigkeiten entdeckt, mit Bravour. Hier ist es allerdings dem Buch geschuldet, dass dieser Übergang fast ein wenig zu schnell geht, um diesen wirklich glaubhaft nachvollziehen zu können.
Das Zusammenspiel Valettas mit Yve Stephan als Margaret White, Carries Mutter, ist authentisch und auf den Punkt. Hier wurden zwei Hauptdarstellerinnen verpflichtet, die es scheinbar mit einer Leichtigkeit schaffen, diese komplexe, fanatische Mutter-Tochter-Verbindung mit Leben zu füllen und so zu formen, dass man von außen die sich immer stärker aufbauende Hassliebe gespannt mitverfolgen kann. Feinfühlig zieht Stephan die Linien ihres vermeintlich schaurigen, dennoch innerlich zerrissenen und verzweifelten Charakters und sorgt nicht nur einmal für Gänsehaut, wenn Margaret versucht, ihrer Tochter, die sie ja eigentlich nur vor der Welt beschützen möchte, den Teufel auszutreiben. Auch gesanglich überzeugt Yve Stephan auf ganzer Linie und lässt vor allem in den großen Balladen aufhorchen.
Die Handlung beginnt mit Sue, einer Mitschülerin Carries, gezwungen zum Verhör, praktisch nach dem Vorfall der Ereignisse. Die Story wird somit als Rückblende erzählt und immer wieder durch Sue im Hier und Jetzt unterbrochen, die sich innerlich für die Geschehnisse verantwortlich fühlt. Elena Feuß gelingt die Darstellung ihrer Protagonistin sehr glaubhaft, die schuldbewusst alle Verantwortung auf sich nimmt und versucht, für ihren Fehler einzustehen. Auch sie überzeugt mit präzise eingesetzter Stimme, vor allem in den leisen, berührenden Tönen, und kreiert somit einen Charakter, dem man sich direkt nahe fühlt. Carlo Sperfeld als Tommy an ihrer Seite gelingt der perfekte Partner, beide harmonieren auf ganzer Linie und sorgen für die kleinen Lichtblicke an Carries düsterem, wolkenverhangenem Himmel.
Dem kompletten Ensemble steht die Spielfreude ins Gesicht geschrieben. Allround-Talent Matthias Busch, der neben Regieführung und Bühnenbild auch den Charakter des Billy übernimmt, gelingt im Zusammenspiel mit Anna-Katharina Friedrich als Chris ein wunderbar fieses Antagonisten-Paar, das sich in seiner Darstellung sichtlich daran erfreut, Carrie zu demütigen und hinters Licht zu führen. Friedrichs Spiel als Chris ist äußerst präzise und gelungen, ist sie doch buchstäblich die böse Stimme und heimliche Anführerin der Schule, so, wie man sie aus sämtlichen High-School-Filmen kennt. Auch Christine Milo als Frau Stephens, Jonas Bartz als George und Reverend Bliss, Yasmina Giebeler als Norma, Felix Möbus als Stokes, Ulrike Brühan als Helen, Jospehine Lichel als Frieda und Chris Zieroth als Freddy und in einem kurzen Auftritt als verstaubte Bibliothekarin, sind herrlich passend besetzt. Egal ob Solistin, Solist oder Ensemble – sie alle fungieren als wunderbare Einheit, die sichtlich Gefallen daran hat, diesen herausfordernden Stoff authentisch und greifbar zu transportieren. Ebenfalls unbedingt hervorzuheben ist Anna Idahl als Lehrerin Frau Gardner, der es mit ihrer warmherzigen, liebevollen Art und ihrer glasklaren, klangvollen Stimme gelingt, einen wunderbar schützenden Rahmen für Carrie zu schaffen – vielleicht den einzigen Rahmen, den sie je erhalten hat.
Musikalisch ist „Carrie“ geprägt von rockigen, kräftigen Songs, starken, emotionalen Balladen und komplexen Ensemble-Nummern, die besondere Intensität und Feinheit in ihrer Ausführung, sowie Konzentration beim Publikum erfordern. Die siebenköpfige Band unter der Leitung von Amon Benson gelingt es, genau dies präzise zu begleiten und in Szene zu setzen. Leider sorgen kleinere Premieren-Startschwierigkeiten in Licht (Jens Pascher), Special Effects (Lucas Lasse Hansen) und Ton (Stefan Intemann) dafür, dass nicht immer alles zusammenpasst und vor allem akustisch einzelne Textzeilen schwer mitzuverfolgen sind. Dies dürfte sich während der kommenden Shows aber einspielen, so dass alle Stimmen und Darstellungen zum Tragen kommen. Das Potenzial ist definitiv vorhanden, die Ideen sind innovativ und durchdacht.
Matthias Buschs Regieführung ist perfekt und erlaubt es, allen Darstellenden sich trotz der begrenzten Möglichkeiten auszuspielen. Da „Carrie“ bereits vor Jahrzehnten entwickelt wurde, ist es umso spannender, das Stück mit den Begebenheiten von heute zu ergänzen. Denn Mobbing, Ausgrenzung und Fanatismus gibt nicht erst seit Social Media und Co. – wenn auch die Dinge dadurch sichtbarer und grausamer wurden, als sie es ohnehin schon sind. Carries unterdrückendes Zuhause, welches vor allem durch graue Farben, Stille und ihre zutiefst religiöse Mutter – geprägt und verhärtet von deren eigenem Trauma – in Szene gesetzt wird, steht im starken Kontrast zum quirligen, farbenfrohen Alltag der High-School. Letzterer wird unterstrichen durch jugendliche Outfits, Smartphones (Kostüm: Jospehine Kranich) – der Switch von der einen Welt in die andere gelingt innerhalb einer Sekunde. Für Carrie allerdings zwei Höllen auf Erden, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Das Bühnenbild von Matthias Busch ist relativ minimalistisch gehalten und erlaubt dem Publikum, es in seiner eigenen Fantasie zu ergänzen. Im Mittelpunkt zeigt sich ein Gerüst mit einem Bett, einer weißen Wand, die nicht nur einmal als Schattenwand verwendet wird und der versteckten Dachkammer, in die Carrie geschickt wird, um sich wieder auf ihren Glauben zu besinnen und Buße zu tun. Ein paar Tische und Stühle, die entweder die vermeintlich heimelige Küche oder das Klassenzimmer darstellen, sowie ein paar wenige Details, die Margarets Fanatismus oder den jugendlichen Alltag unterstreichen, kommen gekonnt zum Einsatz. Auch die Destruction-Szene sowie Carries telekinetische Fähigkeiten werden mit einfachen, aber gelungenen Mitteln effektiv gelöst und führen letztendlich zum unausweichlichen Showdown.
Die Choreografie von Kate Greer unterstreicht die Regieführung gekonnt, die Welt der Jugendlichen findet somit authentisch und hautnah ihren Weg auf die Bühne. Es sind die zeitlosen Themen, die Suche nach sich selbst und dem Dazugehören, die Unsicherheit im Erwachsenwerden, der ewige Vergleich mit anderen. Auch bei den Tanzszenen macht es Spaß, dem spielfreudigen Ensemble zuzusehen, wenn auch der wenige Platz auf der Bühne sie nicht nur einmal vor kleine Herausforderungen stellen dürfte.
Nach bereits erfolgreichen Produktionen wie „Heathers“ oder „Kopfkino“ hat Stageink / Stagies Berlin wieder einmal bewiesen, dass mit Talent, Spielfreude, wenigen Mitteln und vor allem großer Leidenschaft auch im Amateurrahmen Großartiges geleistet werden kann. Mit viel Fingerspitzengefühl, einer punktgenauen Besetzung und Liebe zum Detail haben sie es in herausfordernden Zeiten gekonnt geschafft, sensible Themen und ein sehenswertes, bedauerlicherweise viel zu selten gespieltes Stück, gelungen in Szene zu setzen. Dieser Verein muss sich keinesfalls verstecken und man mag gespannt sein, was sie als nächstes präsentieren werden.
Text: Katharina Karsunke