
Erinnerung in Moll: „Briefe von Ruth“ in Fürth
Am Stadttheater Fürth entfaltet sich ein musikalisches Erinnerungswerk von eindringlicher Intensität: „Briefe von Ruth“, das Musical von Gisle Kverndokk (Musik) und Aksel-Otto Bull (Libretto), das 2023 beim Musicalfrühling Gmunden uraufgeführt wurde, verbindet historische Dokumente mit Bühnenkunst zu einem bewegenden Porträt einer jungen Frau, die in den Jahren des Nazi-Terrors nicht verstummt.
Die Briefe und Tagebücher der Wiener Jüdin Ruth Maier, zwischen 1933 und 1942 verfasst und längst Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbes, bilden die Grundlage des Librettos. Bull verwebt Originalzitate so feinfühlig in die Handlung, dass sich Authentizität und künstlerische Gestaltung gegenseitig beflügeln. Die dramaturgische Klammer ist klug gewählt: In einer Rückblendenstruktur liest Gunvor Hofmo, norwegische Dichterin und Maiers Lebensgefährtin, in den Aufzeichnungen und ruft die Erinnerung an Ruths Leben und Schicksal wach.
Kverndokks Musik ist von einer dunklen Melancholie durchzogen – lyrisch, kammermusikalisch dicht und getragen von einer feinen Melodik, die die innere Welt der Figuren spiegelt. Unter der Leitung von Jürgen Goriup entsteht ein orchestraler Klangraum, der die Verletzlichkeit und Kraft Ruth Maiers gleichermaßen hörbar macht.
Markus Olzingers Inszenierung bleibt bewusst zurückgenommen. Das Bühnenbild in Türkis – reduziert auf wenige Podeste, Möbel, Vorhänge und Projektionen – lenkt den Blick auf die Figuren selbst. In den Videosequenzen von Jürgen Erbler und Olzinger erscheinen Ruth Maiers Original-Handschriften. Es sind fragile Spuren eines ausgelöschten Lebens, die durch Licht und Musik eine neue Gegenwart finden. Ingo Kelps gedämpftes Lichtdesign unterstützt diese Intimität, während die Kostüme (frei nach Angelika Pichler) zeit- und rollengemäß wirken und so die Geschichte visuell sehr gut miterzählen.
Im Zentrum steht Jasmina Sakr als Ruth Maier: eine beeindruckend intensive Darstellung, deren emotionale Wahrhaftigkeit unter die Haut geht. Ihre Ruth ist verletzlich und stark zugleich, eine junge Frau zwischen Erwachsenwerden, Flucht und der Suche nach Sinn. Tamara Pascual als Gunvor Hofmo begegnet ihr mit sensibler, vielschichtiger Präsenz – eine Figur, die in der Erinnerung lebt und zugleich die Erinnerung wachhält.
Yngve Gasoy-Romdal überzeugt in mehreren Rollen mit Wandlungsfähigkeit und sorgt an den richtigen Stellen für leichtere Zwischentöne. Michaela Thurner und Carmen Wiederstein als Ruths Schwester und Mutter verleihen den Familienszenen Authentizität, während Previn Moore als Professor Williger zurückhaltende Rationalität beisteuert.
„Briefe von Ruth“ ist mehr als ein Biografical. Das Musical erzählt von Liebe, Verlust, Fremdsein und der Sehnsucht nach einem sinnvollen Leben, ohne in Sentimentalität zu verfallen. Gisle Kverndokk und Aksel-Otto Bull gelingt das Kunststück, eine Coming-of-Age-Geschichte mit den Abgründen des 20. Jahrhunderts zu verknüpfen, ohne den Blick für das Individuum zu verlieren. Das Publikum im Stadttheater Fürth reagiert spürbar bewegt. Nach dem Schlussakkord herrscht zunächst Stille – jene ehrfürchtige Stille, die entsteht, wenn Kunst etwas in uns berührt, das über das bloße Sehen und Hören hinausgeht. Dann folgt Applaus, lang und dankbar.
Text: Patricia Messmer