
Fahrt durchs zersplitterte Paradies: „Balkan Express“ in Osnabrück
Ein Zirkuszelt auf der Bühne. Grellbunt, überlebensgroß, ein Versprechen von Spektakel – und zugleich ein Hinweis: Hier wird jongliert mit Geschichte, mit Emotionen, mit Identität. Mit „Balkan Express“, der neuesten spartenübergreifenden Produktion im Rahmen des Spieltriebe-Festivals, lädt das Theater Osnabrück zu einer musikalischen Zeitreise durch das ehemalige Jugoslawien ein. Es ist eine Fahrt, die zugleich schillernd und melancholisch, mitreißend und tieftraurig ist.
Regisseur Ulrich Mokrusch und sein Kreativteam bringen mit dieser Inszenierung Oper, Schauspiel und Tanz mit großem Orchester im Graben und einer Band auf der Bühne in einen ebenso ungewöhnlichen wie berührenden Dialog. Der „Balkan Express“ ist kein klassisches Stück mit stringenter Handlung, sondern ein assoziativer Reigen – eine Art Revue über ein Land, das es nicht mehr gibt, aber in den Erinnerungen vieler als Mythos fortlebt.
Der Abend beginnt im Glanz: Lichter, Kostüme (opulent entworfen von Okarina Peter), Musik. Alles scheint in Bewegung. Doch schnell wird klar: Hinter dem Glamour lauert die Geschichte. Mokrusch erzählt von den Utopien der jugoslawischen Gründung als blockfreier Staat zwischen Ost und West, von Brüderlichkeit, Aufbruch und gemeinsamer Kultur – um dann das Zerbrechen dieses Traums nachzuzeichnen, das in der Belagerung Sarajevos einen tragischen Höhepunkt findet. Das Bühnenbild von Timo Dentler – das Zirkuszelt – bleibt in seiner Ambivalenz das bestimmende Bild des Abends. Es ist Show und Scheitern zugleich.

Musikalisch ist die Inszenierung ein Ereignis. Daniel Inbal dirigiert das Osnabrücker Symphonieorchester mit Wucht und Feingefühl gleichermaßen. Ob Balkan Brass, Schlager, sinfonische Klänge oder Opernarien – alles fügt sich zu einem heterogenen, aber nie beliebigen Klangbild.
Sascha Maria Icks als Schlagersängerin Lepa changiert gekonnt zwischen Ironie und Nostalgie. Jan Friedrich Eggers verleiht dem Jugo-Boss eine faszinierende Mischung aus Machtgeste und Verlorenheit. Opernsängerin Susanna Edelmann als Mädchen überzeugt mit strahlender Stimme und zarter Präsenz. Und Stefan Haschke gibt dem schmierigen Entertainer eine tragikomische Note, die den Abend immer wieder ins Heute holt.
Die Dance Company (Choreografie: Blenard Azizaj) und der Opernchor fügen dem Bild eine zusätzliche Ebene hinzu – körperlich, rauschhaft, expressiv. Besonders stark sind die Momente, in denen Musik, Sprache und Bewegung ineinanderfließen und fast tranceartige Zustände erzeugen. Hier gelingt das, was nur im Musiktheater möglich ist: ein emotionales Verstehen jenseits der Worte.
Am Ende ist „Balkan Express“ wie eine Fahrt durchs zersplitterte Paradies. Es ist ein vielstimmiges, mutiges und berührendes Projekt – eines, das sich dem politischen wie emotionalen Erbe Jugoslawiens mit Respekt und künstlerischer Fantasie nähert. Ein Stück, das nicht erklären, sondern erinnern will und einen poetischen Bilderbogen zeichnet zwischen Traum und Trauma, virtuos inszeniert und kraftvoll gespielt.
Text: Dominik Lapp