„Anatevka“ in Saarbrücken (Foto: Martin Kaufhold)
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Exzellente Inszenierung: „Anatevka“ in Saarbrücken

Weltweit kennt man wohl den Song „Wenn ich einmal reich wär’“ aus dem Musical „Anatevka“. Es ist der Gassenhauer schlechthin, während das Stück insgesamt gar nicht so viel Musik bietet, sondern recht schauspiellastig ist. Am Saarländischen Staatstheater in Saarbrücken hat man für diese besondere Aufgabe mit Gil Mehmert einen Experten verpflichtet, der als Regisseur im Musical genauso zu Hause ist wie im Schauspiel – und der Oper. Ihm gelingt es, eine exzellente Inszenierung aus den Brettern, die die Welt bedeuten, zu stampfen.

Auf der einen Seite verspricht „Anatevka“ Unterhaltung, auf der anderen Seite erhält der historische Stoff durch das momentane Weltgeschehen zeitgemäße Bezüge. Die Erzählung über polnische Juden im ukrainischen Dorf Anatevka behandelt Themen wie Flucht, Vertreibung und Pogrome, beleuchtet jedoch auch Aspekte von Gemeinschaft, Ritualen und Generationenkonflikten.

In seiner Inszenierung, die wie ein Plädoyer für die Menschlichkeit wirkt, zeigt Gil Mehmert äußerst nahbare Charaktere, die unbändige Lebenslust und Feierlaune genauso widerspiegeln wie Überlebenswillen. In die unverkennbare Handschrift Mehmerts mischt sich Bart De Clercqs energetische Choreografie, unter anderem mit einem geradezu ikonischen Flaschentanz und einer mitreißenden Darbietung der Nummer „Tradition“.

In dieser Szene tanzt Tevje im Vordergrund, während sich hinter ihm der von Jaume Miranda sehr gut einstudierte Chor bewegt. Im Zusammenspiel von Regie und Choreografie entstehen immer wieder solche wunderbaren Bilder, so auch die Hochzeitszeremonie, die von Schlägertrupps unterbrochen wird – aber alles in Zeitlupe. Weiter ist die Albtraumsequenz mit tanzenden Skeletten hervorragend in Szene gesetzt worden.

Das Bühnenbild von Jens Kilian zeigt das ukrainische Dörfchen mit Holzhäusern, durch den Einsatz der Drehbühne werden schnelle Szenenwechsel ermöglicht. Die Kostüme von Claudio Pohle sind als zeitgemäß zu bezeichnen und unterstützen das allgemeine Look-and-Feel der Inszenierung.

Der Höhepunkt dieser „Anatevka“-Inszenierung ist Enrico De Pieri. Er allein ist einen Besuch in Saarbrücken wert, denn er spielt auf beeindruckende Weise die Rolle des Milchmanns Tevje. In einem ständigen inneren Konflikt ringt sein Tevje mit dem Schicksal, feiert und tanzt, flucht und trauert, zeigt sich mal stur, mal verletzlich. In jeder Szene zeichnet De Pieri ein authentisches Porträt eines hart arbeitenden Mannes, der seinen Humor und seinen Glauben niemals aufgibt.

Dieser Tevje ist einerseits ein Schlitzohr und andererseits ein treusorgender Vater von fünf Töchtern, für die er stets das Beste will. Mit seiner gesanglichen Interpretation von „Wenn ich einmal reich wär’“ weiß Enrico De Pieri, der sich auf der Bühne rar gemacht hat, seit er Professor an der Folkwang Universität in Essen ist, zu begeistern. Umso erfreulicher, ihn nach „Chicago“ in Bonn und „The last five Years“ in Darmstadt jetzt wieder in einem Musical erleben zu können.

An seiner Seite gibt Christiane Motter als Golde eine genauso forsche wie gütige Ehefrau Tevjes, wohingegen Nina Links als Zeitel, Bettina Maria Bauer als Hodel und Annika Steinkamp als Chava herrlich unbeschwert über die Bühne wirbeln, in ihrem Terzett „Jente, o Jente“ mit strahlenden Stimmen glänzen und davon träumen, wie ihnen die Heiratsvermittlerin Jente die passenden Männer vermittelt.

Dieser Heiratsvermittlerin verleiht Eva Kammigan eine ordentliche Kontur, während Stefan Röttig als Lazar Wolf einen überzeugenden Metzger gibt und Max Dollinger den Schneider Mottel genauso exzellent spielt wie singt. Nico Hartwig als Student Perchik sowie Juri Menke als Fedja komplettieren die hervorragende Cast.

Die Musikalische Leitung liegt in den Händen von Justus Thorau, der das Saarländische Staatsorchester mit Präzision und Versiertheit durch die eher musicaluntypische Partitur von Jerry Bock leitet und nicht zuletzt dafür sorgt, dass diese „Anatevka“-Produktion vom Publikum verdient gefeiert wird.

Text: Christoph Doerner

Nach seinem Studium der Musiktheaterwissenschaft, einem Volontariat sowie mehreren journalistischen Stationen im In- und Ausland, ist Christoph Doerner seit einigen Jahren als freier Journalist, Texter und Berater tätig.