„Le vin herbé“ (Foto: Dominik Lapp)
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Warum das Niedersächsische Staatsorchester bei 14 Grad im Freien nicht spielt

Ursprünglich sollte an dieser Stelle eine Rezension zum Oratorium „Le vin herbé“ veröffentlicht werden. Die Staatsoper Hannover hatte das Werk von Frank Martin nach der Corona-Zwangspause kurzfristig auf den Spielplan gesetzt und im Gartentheater der Herrenhäuser Gärten zur Aufführung gebracht.

Wer regelmäßig Freilichtaufführungen besucht, wird dabei sicherlich schon einiges erlebt haben. Was das Publikum von „Le vin herbé“ am 10. Juli 2020 erleben musste, ist aber ganz sicher nicht alltäglich im Freilichttheater. Als um 20.59 Uhr eine Mitarbeiterin der Staatsoper Hannover die Bühne betrat, hat sich darüber sicher niemand gewundert. Der erfahrene Opernbesucher weiß natürlich, wenn kurz vor der Vorstellung ein Theaterangehöriger vor den Vorhang tritt, wird in der Regel angesagt, dass jemand vom Gesangsensemble indisponiert ist. So jedoch nicht bei „Le vin herbé“.

Die Mitarbeiterin verkündete eine Minute vor Vorstellungsbeginn, dass die Vorstellung kurzfristig abgesagt werden muss. Als Grund nannte sie die Temperatur, den Violinisten würden schlichtweg die Finger abfrieren. Sie entschuldigte sich für den „nordeuropäischen Sommer“ und verschwand. Das fassungslose Publikum saß 20 Minuten später immer noch vor der leeren Bühne.

Das ist schon ein starkes Stück. Zwar hatte es die ganze Woche über geregnet, doch am Vorstellungstag hatte es Petrus gut gemeint: Es blieb trocken, der Himmel war zwar stellenweise etwas wolkenverhangen, aber die Sonne schien sogar noch um 20.59 Uhr – und mindestens bis Mitternacht sollte es trocken bleiben. Das Thermometer zeigte 14 Grad, zwei Stunden später immerhin noch 12 Grad. Das ist zwar alles andere als allerbestes Sommerwetter, aber jede andere Freilichtbühne hätte bei diesen Umständen definitiv gespielt. Wenn man überlegt, dass in Tecklenburg und Bad Hersfeld auch bei Temperaturen im einstelligen Bereich und bei Regen und Wind gespielt wird, mutet es geradezu mimosenhaft an, wenn den Violinisten des Niedersächsischen Staatsorchesters – die in ihrem Pavillon sogar, im Gegensatz zu Musikern anderer Freilichtbühnen, mit Heizstrahlern ausgestattet sind – angeblich bei 14 Grad schon die Finger abfrieren.

Drei Tage nach der kurzfristig abgesagten Vorstellung entschuldigte sich die Staatsoper Hannover zwar per E-Mail für die kurzfristige Absage und versprach, künftig rechtzeitiger abzusagen. Doch was bedeutet es eigentlich, bei trockenem Wetter eine Freilichtaufführung wegen einer Temperatur von 14 Grad abzusagen? Es zeigt vor allem, in welch luxuriöser Situation sich festangestellte Musiker und von der öffentlichen Hand finanzierte Opernhäuser befinden. Eine privat geführte Freilichtbühne oder ein privates Theater hätten in jedem Fall gespielt – und sei es nur bis zur Hälfte. Denn für Freilichtbühnen gilt, dass der Eintrittspreis nicht erstattet werden muss, wenn eine Vorstellung mindestens bis zur Pause gespielt wird.

In Hannover erstattet man jedoch – anscheinend ohne mit der Wimper zu zucken – das Eintrittsgeld. Und das, obwohl die Niedersächsischen Staatstheater durch die Corona-Zwangspause einen Ausfall von Eintrittsgeldern in Höhe von mehr als zwei Millionen Euro zu verbuchen haben, wie es bei der Spielplan-Pressekonferenz im Mai hieß. Selbst in der nächsten Spielzeit wird es nicht besser, denn aufgrund der weiterhin gültigen Abstandsregeln wird es nur noch ein stark eingeschränktes Platzkontingent im Opernhaus geben. Müsste die Staatsoper Hannover vor solch einem Hintergrund nicht dankbar sein für jede verkaufte Eintrittskarte? Gerade erst hat das Haus einen Spendenscheck über 15.000 Euro erhalten – weil treue Opernbesucher für ihre Oper gespendet haben.

Vor dem Hintergrund der Corona-Krise, die viele Theater und Kulturschaffende in den Ruin treiben wird, ist es geradezu eine Farce, eine Vorstellung wegen einer Temperatur von 14 Grad abzusagen. Andernorts wären Musiker froh, endlich wieder auftreten und Geld verdienen zu dürfen. Die Musiker des Niedersächsischen Staatsorchesters müssen sich darüber keine Sorgen machen, da sie auch bei nicht gespielter Vorstellung bezahlt werden. Es ist aber auch für das Publikum ein Schlag ins Gesicht, das in der anhaltenden Krise dreieinhalb Monate auf kulturelle Veranstaltungen verzichten musste und teilweise sehr weite Anfahrtswege zurückgelegt hat – in der besagten Vorstellung waren sogar Besucher aus den Niederlanden zu Gast.

Was den Zeitpunkt der Absage betrifft: Jeder hätte Verständnis, wenn sich ein Vorstellungsbeginn aufgrund von Regen oder Gewitter verschiebt, die Spielleitung abwartet und sich dann doch für eine Absage entscheidet. Wenn allerdings lediglich aufgrund einer Temperatur von 14 Grad abgesagt wird, ist es gelinde gesagt eine Frechheit, dies erst eine Minute vor Vorstellungsbeginn zu tun. Denn bereits am Morgen stand fest, welche Temperaturen der Wetterdienst für den Abend meldete. Das hätte vielen Menschen eine lange Anreise und unnötige Hotelkosten erspart. Vor allem aber hätte man sich noch rechtzeitig ein alternatives Abendprogramm überlegen können, was aber in Corona-Zeiten spontan um 21.00 Uhr nahezu unmöglich ist. Im Grunde genommen, hätten es die Musiker ihren Kollegen von anderen Freilichtbühnen jedoch gleichtun können: Arschbacken zusammenkneifen und spielen.

Text: Dominik Lapp

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".