„Die Show ihres Lebens“ in Hildesheim. (Foto: Dominik Lapp)
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Probenreport: In Hildesheim feiert „Die Show ihres Lebens“ Europapremiere

Am Theater für Niedersachen (TfN) in Hildesheim feiert am 11. Februar 2012 ein Broadway-Musical seine europäische Erstaufführung: „Side Show“ aus der Feder von Henry Krieger (Musik) und Bill Russell (Buch), das in Hildesheim unter dem Titel „Die Show ihres Lebens“ auf die Bühne kommt. „Die Show ihres Lebens“ ist kein alltägliches Stück – erzählt es doch die Geschichte der siamesischen Zwillinge Daisy und Violet Hilton, die tatsächlich existierten und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Jahrmärkten in Freakshows vorgeführt wurden.

Bis zur Premiere sind es noch einige Tage, die Proben laufen mittlerweile auf Hochtouren. Regisseur Craig Simmons, der am TfN schon zahlreiche Musicals wie „Die Frau des Bäckers“ und „44 Grad im Schatten“ inszenierte, hat auf dem Probenplan für den heutigen Vormittag sowohl den Prolog als auch einige Szenen aus dem ersten Akt stehen. Gerade probiert das Ensemble die Anfangsszene. Die Darsteller sitzen auf einer Empore, die nun von vier Chormitgliedern in der Mitte getrennt wird. „Halt, alles auf Anfang“, schallt die Stimme des Regisseurs quer durch den Zuschauerraum, wo er an einem Pult mit seinem Regiebuch Platz genommen hat.

 „Das machen wir gleich noch mal, das Drehen muss schneller gehen.“ Damit meint er die vier Chorsänger, die die Empore teilen, beide Einzelteile drehen und auf vorgegebene Positionen schieben müssen. Der Ablauf stockt noch etwas. Während die Empore wieder zusammengeschoben wird und die Darsteller ihre Positionen einnehmen, nutzt Dance Captain Annika Dickel die Gelegenheit, um kurz mit dem Regisseur zu sprechen. „Im Halblicht am Anfang ist es ein Freeze“, antwortet Simmons auf ihre Frage, ob die Darsteller im Freeze – also wie eingefroren – auf der Empore sitzen sollen.

Noch wird ohne Orchester geprobt

Das Orchester ist bei dieser Probe noch nicht anwesend. Die Musik steuert eine Pianistin am Klavier bei, die jetzt erneut in die Tasten haut. Konzentration bei allen Beteiligten. Und wieder unterbricht Craig Simmons die Szene. Er bittet zwei Chorsänger, die Positionen zu tauschen. „Ich glaube, so kommt ihr besser klar“, ruft Simmons den beiden Männern zu. Und noch einmal. Jetzt klappt es, Simmons nickt zufrieden.

Schräg hinter dem Regisseur sitzt Christian Gundlach, der mit Argusaugen über dem Geschehen wacht. Gundlach ist nicht nur Direktor der TfN-Musicalsparte, sondern auch derjenige, der das 1997 am Broadway uraufgeführte Musical jetzt nach Hildesheim gebracht und ins Deutsche übertragen hat. „Für die Übersetzung habe ich rund sechs Monate gebraucht“, verrät er. Das ist doppelt so lange, wie er normalerweise für die Übersetzung eines Musicals benötigt, doch „das Stück ist durchkomponiert und deshalb ein richtiger Brocken.“

Ein Brocken für alle Abteilungen

Ein Brocken ist „Die Show ihres Lebens“ für alle Abteilungen des Hauses. Im Orchestergraben werden später so viele Musiker sitzen wie sonst nur bei großen Opern. „Auch unser Chor war noch in keiner Produktion so gefordert wie hier“, weiß der Musicaldirektor. Die musikalischen Proben für das Stück haben bereits im Dezember 2011 begonnen, da die Darsteller hierfür wesentlich mehr Lieder lernen mussten als für andere Musicals. „Für viele war auch neu, dass sie Rezitative singen müssen“, sagt Christian Gundlach. Solche gesungenen Dialoge, die man als Rezitative bezeichnet, sind in der Oper durchaus üblich, bei Musicals aber eher selten.

Auf der Bühne läuft es mittlerweile gut. „Jens, bitte alles in Slow-Motion“, ruft Craig Simmons. Gemeint ist Jens Krause, der den Freakshow-Boss spielt und sich wie in Zeitlupe bewegen soll. „Warum dauert das mit der Zunge so lange“, unterbricht Simmons die Szene. Mit der so genannten Zunge meint er ein fahrbares Bühnenelement, das aus einem Vorhang herausfährt wie eine Zunge aus dem Mund. „Wir sind heute Morgen nur zu zweit“, erklärt ein Bühnentechniker. Bei der Vorstellung werden später wesentlich mehr Bühnenhandwerker anwesend sein, denn „Die Show ihres Lebens“ fordert auch die Technik des Theaters sehr. Es wird bei „Die Show ihres Lebens“ viele Kulissen geben, der Schnürboden über der Bühne wird mit rund 20 so genannten Prospektzügen – also Kulissenteilen und Hintergründen – bestückt sein, die einen schnellen Szenenwechsel ermöglichen.

 „Wir machen die Szene noch mal. Anschließend brauche ich nur noch die sechs Hauptdarsteller“, lautet die Ansage des Regisseurs. Nach der Szene eilt ein Großteil der Darsteller in den Zuschauerraum, wo Taschen und Rucksäcke abgestellt wurden, um anschließend in die Theaterkantine weiterzuziehen.

Nach den Ensembleszenen geht es ans Feintuning

Während Craig Simmons bei der Probe für „Die Show ihres Lebens“ mit dem gesamten Ensemble im Zuschauerraum saß und seine Anweisungen den Künstlern zugerufen hat, sucht er jetzt den Dialog direkt auf der Bühne. Es geht ans Feintuning und an die direkte Interaktion. „Kann ich hier etwas mehr Nuancen haben“, will der Regisseur von Frank Brunet wissen, der den Künstleragenten Terry Connor spielt. „Du musst das Wort ‘Orpheum‘ stärker betonen. Das muss so klingen, als würde ich dir sagen, dass ich der Künstlerische Leiter von Stage Entertainment bin und die Macht habe“, fordert Simmons. Einige Darsteller haben noch kleinere Probleme mit den Rezitativen. Es ist ungewohnt für sie, Dialoge singen zu müssen. Bei manchen klingt es schon sehr melodisch, andere stocken noch leicht. „Ich habe es da zum Glück einfacher, weil ich aus der Oper komme“, sagt Regine Sturm, die als Violet Hilton einen der siamesischen Zwillinge spielt. Daisy Hilton, den zweiten siamesischen Zwilling, spielt Navina Heyne.

Bei so einer anstrengenden Probe kommt aber auch der Spaß nicht zu kurz. Während der Regisseur mit Frank Brunet und Jens Krause an einer Szene arbeitet, bringt Jens Plewinski mit kleinen Komik-Einlagen Regine Sturm und Navina Heyne zum Lachen. Später ist es Jens Krause, der spaßeshalber im Glitzerkleid auf die Bühne kommt. Es wird gelacht. Dann konzentrieren sich alle wieder. „Zehn vor eins, da können wir noch das Finale machen“, lautet die letzte Ansage für den heutigen Vormittag. Simmons scheint zufrieden.

„Das beste Stück, das ich bisher spielen durfte“

Ob sich die harte Arbeit gelohnt hat, wird sich in einigen Tagen zeigen. Spannend ist sie allemal, so eine europäische Erstaufführung. Nachdem „Die Show ihres Lebens“ vor rund 15 Jahren am Broadway gefloppt war, hofft man nun in Hildesheim auf einen Erfolg. „Für mich ist es das beste Stück, das ich bisher spielen durfte“, sagt Navina Heyne, und man könnte meinen, dabei ein Funkeln in ihren Augen wahrzunehmen.

Text: Dominik Lapp

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".