
Zu viele Handlungsstränge: „Walpurga“ in Thale
Das Harzer Bergtheater in Thale wurde fünf Jahre lang umgebaut und ist jetzt neu eröffnet worden. Angekündigt war ein eigenes fulminantes Musical, das „mehr [sein sollte] als eine Inszenierung“. Das Kreativteam um Autor und Komponist Enrico Scheffler versprach „Hexen, Intrigen, Jagd, Liebe und Macht.“
Die Grundidee, die Hexenverbrennungen des Mittelalters mit den Sagen und Mythen der (Harzer) Hexen zu verbinden, verspricht eine spannende Umsetzung. Allerdings wollte Scheffler in seinem Buch zu viel, so dass kein Handlungsstrang sauber verfolgt wird. Es ist schon auffällig, dass im Vorfeld und auch im zu erwerbenden Programmheft keine Zusammenfassung der Story zu lesen ist. Die Geschichte besitzt keinen klaren roten Faden, den Figuren fehlt Tiefgang, sie bleiben eindimensional, flach und mitunter plakativ. Eine gute, spannende Geschichte, die die Zuschauenden auch in die Gefühlswelt der Protagonisten entführt, bietet das absolut notwendige Fundament eines Musicals. Dies ist hier nicht gegeben. Und wenn das Fundament nicht steht, dann wackelt leider auch der Rest des Hauses.
Das Grundproblem von Schefflers Buch: Es werden zu viele Handlungsstränge eröffnet und nicht sauber auserzählt. Eine klare Abgrenzung zwischen Gut und Böse fehlt, was vor allen Dingen der Oberflächlichkeit der Figuren geschuldet ist. Weiterhin ist es ein Wagnis, eine historisch-literarisch definiert böse Figur wie den Mephisto plötzlich als guten Heiler darzustellen. Und wenn man das macht, braucht diese Darstellung Beweggründe, Hintergründe und eine klar definierte Charakterrolle. Zudem müssen die Gegenspieler, die bösen Hexen und Dämonen, noch sauberer und exakter herausgearbeitet und als Antagonisten präsentiert werden.
Die böse Hexe Wartelinde stirbt so plötzlich wie sie aufgetaucht ist: Nach einem Tanz und einer kurzen Explosion ist sie sofort tot. Ihre Beweggründe, warum sie böse ist und den Platz der Oberhexe haben will, bleiben genauso im Dunkeln wie die Gefühle Walpurgas als neugeborene Hexe. Weiterhin stehen die Figuren in keiner Beziehung zueinander – weder durch Liebe noch Hass. Walpurga scheint keine Angehörigen zu haben, auch Bürgermeister und Hexenkommissar bleiben oberflächlich plakative Charaktere ohne Emotionen und ohne Geschichte. Wer ist Walpurga? Wer ist die Oberhexe? Wer ist Watelinde? Was bewegt die Figuren? Warum agieren sie so wie sie agieren?
Vor diesem Hintergrund krankt leider die komplette Inszenierung (Regie: Ronny Große). Sämtliche Darstellerinnen und Darsteller versuchen, das Mögliche aus ihren Figuren herauszuholen, nur gelingt das eher schlecht, da keine Substanz vorhanden ist. Lediglich der Hexenjäger hat buchbedingt Ansätze, das Publikum ein wenig in sein Gefühlsleben schauen zu lassen, was aber mit Beginn des zweiten Aktes zeitlich viel zu spät kommt. Dennoch legt Lorenzo Pedrocchi viel Gefühl in „Mein Leben verschrieb ich der Jagd“. Dieses Stück ist das einzige im Musical, das innerhalb eines Liedes eine gewisse Progression der Geschichte oder zumindest Verständnis für die Figur schafft. Wir dürfen den Hexenjäger ein bisschen kennen lernen. Dennoch bleiben auch bei ihm Fragen offen: Warum hat er keinen Namen? Warum hat man ihn nicht erst mit dem Tod der Tochter zum Hexenjäger gemacht? So hätte er ein Motiv. Der Tod hat lediglich seinen Hass auf die Hexen geschürt.
Vieles bleibt im Dunkeln: Woher kann Walpurga plötzlich zaubern, obwohl sie es anfangs noch nicht konnte? Warum hat sie sich entschieden, auf die gute Seite zu wechseln, wenngleich sie sehr gute Argumente für die böse Seite hatte? Welche bösen Taten hat Watelinde auf dem Kerbholz und warum? Warum will Watelinde ausgerechnet Walpurga auf ihre Seite ziehen?
Die in der Werbung für das Stück viel versprochenen Intrigen bleiben ebenso aus wie die angekündigte Liebe. Enrico Scheffler verzettelt sich in seinem eigenen Anspruch, alles zu wollen. Weiterhin geschieht die Progression der Geschichte ausschließlich über – zum Teil sehr lange – Dialoge. Fetzige, gefühlvolle oder melancholische Gesangsnummern sucht man vergeblich.
Bis auf „Mein Leben verschrieb ich der Jagd“ führen alle anderen Songs, die sehr rockig und fetzig sind, die Geschichte textlich nicht weiter und tun auch nichts dafür, die Figuren näher kennenzulernen. Meist haben Hauptcharaktere in Musicals einen oder zwei prägnante Nummern, in denen Beweggründe, Hintergründe oder Gefühle deutlich werden. Dies fehlt leider komplett in „Walpurga“. Ein paar musikalische Motive sind zu erkennen, aber sie haben keinen Bezug zur Geschichte und prägen sich daher nicht ein. Lediglich das Klaviermotiv in „Hexentanzplatz“ hat hier die Chance auf Wiedererkennung. Ansonsten scheinen die musikalischen Motive willkürlich eingesetzt zu sein.

Gesanglich und schauspielerisch zeigen alle Mitwirkenden – Profis wie Laien – eine solide Leistung. Es gibt wenig falsche Töne (einer der Räuber), die Gesangsparts sind sauber, und wenn die Damen ins Belting gehen, wird auch nicht geschrien. Dennoch ist keine stimmliche Leistung als absolut herausragend oder eingängig zu bezeichnen. Es bleibt kein Gänsehautmoment oder nachdenklicher Moment zurück. Allerdings lässt die Musik solche Momente auch nicht zu.
Angelika Milster bleibt buchbedingt eher im Schatten und kann ihre wahre Größe nicht ausspielen. Tatsächlich steht sie sehr viel auf der Bühne herum, oftmals unbeweglich, was eher für Verwirrung sorgt. Warum wehrt sich Annerose nicht gegen den Angriff von Watelinde? Die meiste Zeit verbringt ihre Figur damit, Sibylle auf alle erdenklichen Arten zu beschimpfen.
Die vielen technischen Probleme im neu (!) eröffneten Theater verstärken den unausgereiften Eindruck von „Walpurga“. Bei Milsters erstem Auftritt fällt ihr Mikrofon aus, der Hexenjäger ist einmal versetzt zu hören, weil zwei Lautsprecher nicht synchronisiert sind, so dass der Text nicht mehr zu verstehen ist, oft verpasst die Technik die Einsätze, so dass die ersten Sprech- oder Gesangsteile der Darsteller nicht zu hören sind. Eine Rückkopplung gibt es ebenfalls.
Die Kostüme (Astrid Koch, Carmen Zwicker und Sandra Zwicker) sind eine Mischung aus Mittelalterkleidung und recht typischer LARP-Kleidung, wenngleich die Hexen sehr unterschiedlich dargestellt sind und aus allen Bereichen vertreten sind. So sieht man Malefiz und die Grimm’sche böse Hexe sowie die Hexe Baba Jaga aus der slawischen Mythologie.
Leider unterstützen die Kostüme die Charaktere nicht. In einem so großen Theater – ins Bergtheater passen rund 2.000 Menschen – braucht es große oder auffällige Details, damit Besonderheiten auch in der letzten Reihe gesehen werden. Watelinde hat lange schwarze Haare und einen langen schwarzen Ledermantel. Da aber der Großteil der anderen Hexen ebenfalls schwarz gekleidet ist, sticht sie optisch nicht als Antagonistin hervor. Noch verwirrender ist, dass sie nach ihrem Tod als eine andere Hexe des Ensembles in derselben Kostümierung auftritt, so dass man sich fragt, ob sie plötzlich wieder auferstanden ist. Gerade wenn eine Person eine Doppelrolle besetzt, sollte dies auch optisch deutlich dargestellt werden.
Ansonsten bietet das Bergtheater Thale eine atemberaubende Kulisse. Die Bühne besteht aus drei Teilen. Ein großes Zentrum und rechts und links zwei Spielebenen, die auch erhöht sind. Links steht ein Turm, wo die Folterkammer des Hexenkommissars sowie das Büro des Bürgermeisters untergebracht ist. Rechts befindet sich der Wald. Schräg dahinter verläuft eine lange Brücke, auf der Mephisto (Klaus Heydenbluth) mit viel Nebel und pompöser Musik seinen Auftritt hat. Auf der Hauptbühne in der Mitte stehen metallene Podeste, die an Feuer erinnern, dahinter steht eine LED-Wand, auf der die meiste Zeit ein Backsteingebäude zu sehen ist. Die Hauptbühne dient zu Beginn des Stücks als Platz der Hexenverbrennung, später als Hexentanzplatz.
Musikalisch hat „Walpurgisnacht“, kraftvoll intoniert von Nico Alesi als Dämon, das Zeug zum Ohrwurm. Dennoch wäre auch hier mehr Abgeschlossenheit des Songs wünschenswert. Generell werden die Lieder häufig durch Sprechpassagen unterbrochen. Das kann man mal machen, dauerhaft stört es jedoch den musikalischen Fluss. Viele der nicht live gespielten Stücke versprechen sehr fetzig und rockig zu sein, sind jedoch unglaublich kurz, beispielsweise die Vorstellung des Hexenkommissars zu Beginn. Eine Ouvertüre sucht man vergeblich. Zu Beginn des zweiten Aktes gibt es einen musikalischen Auftakt, der, noch ein wenig erweitert, die Möglichkeit hätte, zu einer guten Ouvertüre zu werden.
Alles in allem bleibt festzuhalten, dass die Grundidee, dass Hexen erst aus dem Feuer entstehen, wirklich Potenzial hat. Aber es wäre wünschenswert, dass Enrico Scheffler die vielen Handlungsfelder deutlich reduzieren, dafür aber ein bis zwei Felder tiefgreifender auserzählen würde. Es ist sinnvoller, Tiere als Darsteller wegzulassen und lieber die Figuren zu Charakteren zu entwickeln, die auch in irgendeiner Beziehung zueinanderstehen: Sei es Liebe, sei es Verwandt- oder Freundschaft. Nur so sind Konflikte möglich. Und Konflikte würzen eine Geschichte und machen sie spannend.
Es hätte ein spannendes Musical werden können, das nicht nur gespielt, sondern gefühlt wird, so wie es im Programmheft versprochen wird. Die Grundlage ist da, und es ist dem Team um Regisseur und Intendant Ronny Große zu wünschen, dass es sich seinen Traum – mit „Walpurga“ ein Alleinstellungsmerkmal zu schaffen, das es mit Störtebeker aufnehmen kann – erfüllen kann. Dafür sollten alle Beteiligten das Stück aber noch mal grundlegend überarbeiten, oder kurz gesagt: „Walpurga“ sollte noch ein wenig in die Hexenschule gehen. Weniger ist manchmal mehr.
Text: Anna-Lena Ziebarth