
Düsteres Meisterwerk unter freiem Himmel: „Rebecca“ in Brüssel
Im Schatten von Schloss Karreveld im Brüsseler Stadtbezirk Molenbeek-Saint-Jean entfaltet sich ein Musicalthriller von enormer Intensität: „Rebecca“ feierte dort im Rahmen des Festival Bruxellons jetzt seine belgische und zugleich französischsprachige Erstaufführung – als Open-Air-Inszenierung und mit bemerkenswerter künstlerischer Finesse. Das Werk von Michael Kunze (Buch und Songtexte) und Sylvester Levay (Musik), das in der Vergangenheit schon mehrfach international inszeniert wurde, wird hier so genial auf die Bühne gebracht, dass es das Publikum direkt in seinen Bann zieht.
Spannend ist bereits die sprachliche Transformation: Die französische Übersetzung stammt von Stéphane Laporte, der sich im Vorfeld in einem Interview zur Herausforderung geäußert hat, deutsche Lyrik ins Französische zu übertragen – eine Sprache, die mehr Silben und Wörter braucht, aber dennoch Melodie und Metrik des Originals wahren muss. Der Kniff: Laporte ließ zunächst durch ChatGPT die deutschen Texte in eine französische Rohfassung übertragen, um sie dann eigenhändig zu poetisieren. Das Ergebnis überzeugt: Die Sprache fließt, der Rhythmus stimmt, und die Emotionen erreichen das Publikum unmittelbar.
Regie führen Marina Pangos und Jack Cooper – und sie liefern eine Inszenierung, die den Spannungsbogen präzise hält und die Figuren vielschichtig zeichnet. Besonders die psychologischen Konflikte, das Schweigen, die Andeutungen, die Abgründe der Erinnerung und des Misstrauens werden nuanciert herausgearbeitet. Das 18-köpfige Orchester unter der Leitung von Laure Campion trägt entscheidend zur Atmosphäre bei. Sylvester Levays Partitur, die von spätromantischer Opulenz bis hin zu nervösem, fast filmisch anmutendem Suspense reicht, wird mit Sorgfalt und Energie umgesetzt. Die Musik lässt die Charaktere in ihrer Zerrissenheit schillern und steigert das Drama, ohne je pathetisch zu wirken.
Sylvianne Bessons Bühnenbild ist eine Klasse für sich. Monumentale blutrote und schwarze Reliefwände dominieren das Spiel – sie erzeugen eine beklemmende Atmosphäre, in der selbst das Sonnenlicht keine Leichtigkeit zulässt. Zwei schräg montierte Türen stören die Symmetrie und verweisen subtil auf die gestörte Ordnung in Manderley, während Rebeccas überlebensgroßes, aber zerfleddertes Porträt über der Haupttreppe ihren bleiernen Einfluss auf die Gegenwart symbolisiert. Der zentrale Spielraum mit Innenhof, Garten und zwei Treppen erlaubt fließende Szenenwechsel und stützt die dramatische Entwicklung – vom zaghaften Ankommen der namenlosen Heldin bis hin zur Enthüllung des grausamen Geheimnisses. Die Kulisse wirkt wie ein psychologischer Spiegel der Figuren und macht aus dem Musical einen fesselnden Thriller.
Im Lichtdesign beweist Laurent Kaye ein feines Gespür: Lichtakzente setzen Übergänge, steigern die Spannung und unterstützen die Intensität jeder Szene. Kylian Campbells Choreografie tritt dezent in den Hintergrund, wirkt nie aufgesetzt, sondern passt harmonisch ins Gesamtbild.
Die Kostüme von Béatrice Guilleaume spiegeln Zeit und Charaktere sehr gut wider, ohne sich dabei aufdringlich in Szene zu setzen. Die detailreiche Gestaltung verleiht den Figuren Authentizität und fügt sich in das ästhetische Konzept der Inszenierung ein.
Die Darstellerinnen und Darsteller agieren auf hohem Niveau. Laura Tardino gibt die namenlose Erzählerin mit eindrucksvoller Bühnenpräsenz – ihre Unsicherheit, ihre Sehnsucht, ihr allmähliches Erwachen zur Selbstbehauptung sind glaubwürdig und berührend. Jeremy Petit gibt einen Maxim de Winter voller innerer Spannungen und charismatischer Distanziertheit. Liesbeth Roose als Mrs. Danvers ist eine Macht: furchteinflößend in Mimik und Gestik, mit starker Stimme und kalter Unerbittlichkeit – ein Glanzpunkt der Show.
Nathan Desnyder überzeugt als zynischer Jack Favell, Marie-Aline Thomassin als schrille, witzige Mrs. Van Hopper sorgt für willkommene komödiantische Momente und avanciert zum Publikumsliebling. Damien Locqueneux als Frank Crawley strahlt warme Verlässlichkeit aus, während Mathias Fleurackers seinem Ben eine berührende Ausstrahlung verleiht. Ergänzt werden die Solistinnen und Solisten von einem Ensemble, das in den Gruppenbildern glänzt.
Mit dem Musical „Rebecca“ gelingt in Brüssel ein großer Wurf: Es ist eine stimmige, kluge und musikalisch kraftvolle Inszenierung, die dem Stoff gerecht wird und dabei neue Akzente setzt.
Text: Patricia Messmer