„Der Prozess“ (Foto: Dominik Lapp)
  by

Heftig gegackert, aber nicht gelegt: „Der Prozess“ in Bad Hersfeld

Joern Hinkel, Intendant der Bad Hersfelder Festspiele, weckt große Erwartungen, wenn er die Eröffnungsrede von Deniz Yücel halten lässt und Namen wie Yamal Kashoggi ins Spiel bringt. Doch obwohl er in seinem Vorwort zu „Der Prozess“ das Grundgesetz zitiert, Gleichheit aller Menschen, Freiheit der Meinung, des Glaubens, der Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre, obwohl er also große Worte macht, benachteiligt schon sein Bühnenbild Randgruppen. Denn wer randwärts „die billigen Plätze“ buchen musste, kann nicht einmal alle Hauptfiguren sehen, geschweige denn den weitläufigen Bühnenhintergrund der Stiftsruine.

Vollmundig betont Hinkel die Aufgabe des Theaters, dem Zuschauer Fragen zu stellen, ihn zum Nachdenken anzuregen, ihn gar zu belehren. Doch er liefert nicht. Franz Kafkas Vorlage weckt heftige Gefühle, Grauen, Entsetzen, Hoffnung, Enttäuschung, Resignation – nichts davon bringt das hochkarätige Ensemble der Bad Hersfelder Festspiele bei „Der Prozess“ auf die Bühne. Was sich liest wie das Who-is-Who des deutschen Films, enttäuscht nahezu ausnahmslos. Wenn da überhaupt irgendein Funke sprüht, dann reicht er nicht einmal bis Reihe neun.

Die schwarz verkleideten, in viele kleine Türchen zergliederten Bad-Hersfeld-typischen fahrbaren Baugerüste könnten Aktenlage oder Schubladendenken verkörpern, leider werden sie boulevardesk eher sinnlos ständig auf- und zugeklappt. Wo sich hinter jeder Tür ein Gesicht verbergen könnte (in der Wartesaalszene) wird das nicht umgesetzt, hier warten alle einfallslos auf Stühlen. Die übermächtige Verwaltung wird hauptsächlich durch die Aufseherin angedeutet, allerdings wirkt sie erst richtig gruselig als körperloses Gesicht auf den Bildschirmen. Aus dieser Anlehnung an „1984“ hätte man jedoch weit mehr machen können.

Das Gericht, das überwältigend bedrohlich wirken sollte und könnte, ist eine belanglose Versammlung von drei teilweise schlafenden Leutchen auf einem Baugerüst. Wäre auch das Gericht nur ein körperloses Gesicht auf einem (überdimensionierten) Bildschirm – verschenkt, wie so viele Möglichkeiten: die verschleierte Justitia im zweiten Akt wird zum Beispiel nie enthüllt. Dabei hätte sie ein Automaten- oder Totengesicht zeigen können, oder eine leere Fläche, wo ein Gesicht sein sollte. Nichts von alledem, und dieses „nichts von alledem“ zieht sich durch die gesamte Inszenierung, denn nichts von dem, was Kafkas Vorlage ausmacht, wird umgesetzt, auch nicht der ausdrückliche Vorsatz Hinkels, das Stück unterhaltsam zu gestalten.

Ronny Miersch bleibt als Josef K. merkwürdig blass. Seine Figur berührt nicht, vermag kein Interesse an seinem Schicksal zu wecken, weder Sympathie noch Mitgefühl. Ihm scheint alles egal zu sein; dass die Agenten Franz (eher schwach: Thomas Maximilian Held) und Willem (wenig überzeugend: Markus Majowski) ihm mal eben das Frühstück wegessen, empört ihn weder noch ängstigt es ihn. Das seltsame Verhalten seiner Freundin Felice (wunderbar vulgär: Corinna Pohlmann) lässt ihn ziemlich kalt, sein Onkel (für Kafka viel zu familiär: Günter Alt) ist ihm allenfalls lästig. Marianne Sägebrecht stottert sich in der Rolle der Haushälterin durch ihren eigentlich gar nicht so umfangreichen Text, Betonung, Mimik oder Gestik sucht man bei ihr vergeblich.

Jürgen Hartmann verschläft als Untersuchungsrichter die Verhandlung, das sieht das Skript nun einmal so vor. Aber als angeklagter, inzwischen bankrotter Kaufmann Block müsste er Verzweiflung ausstrahlen – ihn scheint sein schreckliches Schicksal jedoch wenig zu sorgen. Mathias Schlung (genial letztes Jahr im Musical „Titanic“) berührt als naiver Gerichtsdiener mit der dauernden Frage nach seiner Frau, als Bankangestellter Rabensteiner fällt er dagegen nicht weiter auf.

Maria Radomski glänzt als sarkastische Aufseherin. Dass sie auch die Sekretärin spielt, irritiert lediglich, wo es hätte einen Zusammenhang herstellen können zwischen staatlicher Überwachung und Arbeitsumfeld. Nichts von alledem, es wirkt nur seltsam. Schön schmierig und dämonisch gibt Thorsten Nindel den Fotografen und Maler Titorelli. Lou Zöllkau zeigt die Gehilfin des Advokaten als tierhaft wollüstiges, zugleich berechnendes, aber durchaus sympathisches Mädchen widersprüchlich wie von Kafka gezeichnet.

Ingrid Steeger spielt absolut glaubhaft das Fräulein Montag als verwirrtes, fragiles, zermürbtes Opfer der unbarmherzigen Justiz – ebenfalls eine der wenigen tatsächlich kafkaesken Figuren des Abends. Sie immer nur auf ihre „Klimbim“-Zeit zu reduzieren – wie leider auch an diesem Abend durch das „Schlitz-im-Kleid“-Zitat – tut ihr Unrecht.

Genial selbstgefällig, wundervoll überbetonend, genussvoll modulierend, kraftvoll, katzenartig, raubtierhaft, ist Dieter Laser als Advokat Huld der Lichtblick des Abends. Leider ist er für die „Randgruppen“ nicht immer zu sehen, und gerade weil er so überzeugend spielt, fällt die Blässe der meisten der zahlreichen anderen Darsteller, ja der ganzen Inszenierung von umso mehr auf.

„Der Prozess“ ist eigentlich ein Selbstläufer. Die Vorlage gibt genug Vorgaben, aber auch Raum für eigene Ergänzungen, denn bekanntlich blieb sie unvollendet. Daraus etwas zu machen, ist an sich nicht so schrecklich schwer. Joern Hinkel ist es aber gelungen, das Stück komplett zu versemmeln. Wenn man sich im ersten Akt nur noch fragt, wann endlich Pause ist, und auch der zweite Akt langatmig auf sein belangloses Ende zu plätschert, bei einem Stück wie „Der Prozess“, das den Zuschauer vom verstörenden Anfang bis zum Paukenschlag der schlussendlichen Hinrichtung (die Hinkel nicht einmal andeutungsweise erwähnt) in atemlose Spannung versetzen kann und sollte, dann hat der Intendant und Regisseur eine große Vorlage mit Glanz und Gloria in den Sand gesetzt. Viel gegackert, aber nicht gelegt. Schade eigentlich.

Text: Hildegard Wiecker

Hildegard Wiecker schreibt leidenschaftlich gern und hat Erfahrung als Rezensentin bei thatsMusical gesammelt, bevor sie zu kulturfeder.de kam.