„Pinkelstadt“ (Foto: Tim Müller)
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Herausragende Unterhaltung: „Pinkelstadt“ in Hildesheim

Vielleicht liegt es an dem ungewöhnlichen Titel, dass das Musical „Pinkelstadt“ („Urinetown“) eher selten auf deutschen Bühnen gespielt wird. Das Theater für Niedersachsen in Hildesheim hat sich dem Stoff nun aber angenommen und präsentiert mit der unterhaltsamen Inszenierung von Annika Dickel und Fabian Joel Walter ein kleines Juwel unter den Musicals, das nicht nur ein dystopisches Szenario, sondern auch das Musicalgenre an sich mit einem großen Augenzwinkern betrachtet.

In dem Stück wurde die Erde von einer großen Dürre, dem großen Stunk, heimgesucht. Das Wasser ist knapp, private Toiletten sind verboten und fürs Geschäft müssen öffentliche WCs aufgesucht werden – die natürlich kostenpflichtig sind. Wer illegal ins Gebüsch geht, wird verbannt. Anna Siegrot hat dafür ein zweckdienliches Bühnenbild erschaffen, das im Hintergrund eine Stadt der Zukunft zeigt, im Vordergrund durch verschiedene blecherne Versatzstücke und allerhand Rohre von einer öffentlichen Bedürfnisanstalt über die Firmenzentrale der GmbHarn & Klo KG bis hin zu einem Geheimversteck (das durch ein entsprechendes Schild sogar als solches gekennzeichnet ist) wechseln kann. Die Kostüme erinnern durch ihre Türkistöne witzigerweise an die Farbe von Klosteinen.

Genial durch die Handlung führt Jürgen Brehm als Wachtmeister Kloppstock, der das Geschehen kommentiert, dabei immer wieder die vierte Wand durchbricht und dem Publikum erklärt, wie sich ein Musical aufbaut und was als nächstes geschieht. Dabei wird er nicht müde, immer wieder zu betonen: „Dies ist kein fröhliches Musical.“ An seiner Seite überzeugt Lucia Bernadas Cavallini als Klein-Erna, die ihre Puppe fest umklammert und unangenehme Fragen stellt. Auch stimmlich schöpfen Brehm und Cavallini aus dem Vollen.

„Pinkelstadt“ (Foto: Dominik Lapp)

Louis Dietrich gibt als Johnny Stark einen rebellischen Toilettenmann, der sich gegen seinen Arbeitgeber auflehnt. Die Rolle des jungen Revoluzzers steht ihm sehr gut, gesanglich glänzt er mit einer gefühlvollen Stimme. Eine glaubwürdige Entwicklung gelingt Katharina Wollmann als Freya von Mehrwerth, die sich mit starker Stimme von der Tochter eines Industriemoguls über ein Entführungsopfer bis hin zur neuen Geschäftsführerin der GmbHarn & Klo KG wandelt.

Karsten Oliver Wöllm ist schauspielerisch ein durch und durch böser Werdmehr von Mehrwert, der für Erfolg und Geld sogar die eigene Tochter opfert. Silke Dubilier überzeugt mit ihrem Charisma als Toilettenfrau Elfriede Fennichfux, herrlich witzige Rollenporträts zeichnen außerdem Daniel Wernecke (Wachtmeister Wampe), Samuel Jonathan Bertz (Herr Kaiser), Jack Lukas (Abgeordneter Schmier) und Elisabeth Köstner (Suse). Besonders positiv hervorzuheben ist dabei das grandiose Zusammenspiel von Wöllm, Bertz und Lukas.

Die Musik, die von einer fünfköpfigen Band unter der Leitung von Andreas Unsicker solide intoniert wird, unterstützt die absurde Handlung und zeichnet sich durch eingängige Melodien, witzige Songtexte (Übersetzung: Wolfgang Adenberg) und eine Vielzahl von Stilen aus. Darüber hinaus ist die Choreografie von Annika Dickel sehr gelungen, weil sie so wunderbar zu den jeweiligen Szenen passt.

Ganz besonders empfiehlt sich Dickel mit „Pinkelstadt“ zudem als Regisseurin. Zusammen mit Fabian Joel Walter ist es ihr bei ihrem Regiedebüt gelungen, die vielen Ebenen des Stücks von Mark Hollmann (Musik und Songtexte) und Greg Kotis (Buch und Songtexte) darzustellen. All die brisanten Themen wie Klimawandel, Machtmissbrauch und den Widerstand von Minderheiten hat das Regieteam exzellent herausgearbeitet und dabei den satirischen Ton des Buchautors beibehalten, ohne in völlig überzogenen Klamauk abzudriften. So verspricht diese Show herausragende Unterhaltung.

Text: Dominik Lapp

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".