„Next to Normal“ (Foto: Thomas Müller)
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Emotional: „Next to Normal“ in Kassel

Was ist, wenn weder Hirn noch der Verstand, kein Knochen, kein Organ, doch vielmehr deine Seele bricht? Dieser Frage nimmt sich das Musical „Next to Normal“ an, das jetzt in einer spannenden Neuinszenierung von Philipp Rosendahl einen emotionalen Musicalbesuch am Staatstheater Kassel verspricht.

Das Stück, das 1998 unter dem Titel „Feeling Electro“ der Öffentlichkeit vorgestellt, anschließend weiterentwickelt und schließlich in „Next to Normal“ umbenannt wurde, kam 2008 an den Off-Broadway und 2009 an den Broadway. Erzählt wird darin die Geschichte der Familie Goodman. Im Grunde eine amerikanische Durchschnittsfamilie: Vater Dan geht täglich ins Büro, Mutter Diana ist Hausfrau und die 16-jährige Tochter Natalie glänzt als musikalisches Wunderkind. Doch Diana leidet an einer bipolaren Störung, die sich nach dem Tod ihres Sohnes Gabe bei ihr entwickelt hat.

Spätestens seit dem Musical „Wenn Rosenblätter fallen“, das Sterbehilfe thematisiert, wissen wir nur zu gut, dass es keine Tabuthemen auf der Bühne gibt und man genauso ein Stück spielen kann, in dem es um eine psychiatrische Erkrankung geht, bei der sich depressive Episoden mit manischen Phasen abwechseln. Doch so ein Thema fordert die Regie genauso wie die Mitwirkenden – und das Publikum.

In Kassel hat man mit Philipp Rosendahl auf einen Regisseur gesetzt, der sowohl im Sprech- als auch Musiktheater zu Hause ist und dessen starke Personenregie dem Stück gerecht wird. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Gefühlen, Ängsten und Problemen der Protagonisten. Das Publikum erlebt kein Feel-Good-Musical, sondern eine dramatische Geschichte aus dem wahren Leben, bei der man mitfühlen, mitfiebern und vielleicht sogar einige Parallelen ziehen kann. Im Zusammenspiel der Darstellerinnen und Darsteller setzt Rosendahl auf eine nuancierte Mimik und Gestik, große Emotionen und Gefühle, was der Inszenierung eine besondere Intimität und Intensität verleiht.

„Next to Normal“ (Foto: Dominik Lapp)

Das Bühnenbild von Brigitte Schima, die ebenfalls für die Kostüme verantwortlich zeichnet, zeigt im ersten Akt eine überdimensionale Bienenwabenstruktur, in der die einzelnen Charaktere agieren. Ursprünglich als Corona-Inszenierung geplant, wurde dieses Konzept beibehalten und passt hervorragend zur Thematik. So wird großartig visualisiert, dass alle Figuren mit ihren Gefühlen, Sorgen und Ängsten voneinander isoliert sind und alle ihr eigenes Päckchen zu tragen haben. Fast immer spielen und singen die Darstellerinnen und Darsteller nach vorn ins Auditorium. Das ist herausfordernd für sie und das Publikum, doch unglaublich beeindruckend.

Im zweiten Akt ist die Wabenstruktur verschwunden. Wenn sich der eiserne Vorhang nach der Pause hebt, gibt er den Blick auf eine schwarze, komplett leere Bühne frei, über die Nebel wabert. Das ist nicht weniger beeindruckend als die Szenerie des ersten Akts, denn die Darstellerinnen und Darsteller wirken geradezu verloren und erdrückt von der großen Leere. Dieser Purismus ermöglicht es, den Fokus noch stärker auf die Charakterentwicklung zu legen. Alles wirkt so authentisch und mitreißend.

Ein starker Regie-Einfall ist die menschliche Visualisierung der Figur einer Spieluhr. Es ist die Spieluhr, die Diana ihrem Baby immer vorgespielt hat. Eine sich darauf drehende Tänzerin wird durch Gabe in einem weißen Kleid dargestellt. Doch irgendwann verfärbt sich sein Kleid rot, Diana unternimmt einen Selbstmordversuch. Fortan wird die Handlung düsterer und Gabe tritt später nochmals in dem blutverschmierten Kleid auf.

So genial diese Inszenierung ist, so stark sind auch die Menschen auf der Bühne. Es gibt kein Ensemble, keinen Chor und keine Statisterie. Das Stück steht und fällt mit nur sechs Personen. Angeführt wird die Gruppe von Aisata Blackman als Diana. Sie spielt die Manisch-Depressive mit Bravour, lässt das Publikum Dianas Gefühlswelt mit allen Hochs und Tiefs miterleben und balanciert dabei sehr gut zwischen Depressionen und Glücksmomenten, zwischen Melancholie und Harmonie.

„Next to Normal“ (Foto: Dominik Lapp)

Genauso berührend wie bedrückend ist zudem das Zusammenspiel von Blackman und Philipp Büttner. Die Rolle des Gabe – der tote Sohn, den nur Diana wahrnimmt – scheint Büttner wie auf den Leib geschrieben. Die Darstellung des anfangs liebevollen Jungen, der im Laufe der Handlung immer zorniger und fordernder wird, weil er sich nicht aus Dianas Erinnerung löschen lassen will, gelingt ihm äußerst authentisch und mit starker Bühnenpräsenz. Auch gesanglich lässt er keine Wünsche offen, jeder Ton sitzt, jede Höhe wird spielend gemeistert.

Als wahres Energiebündel erweist sich Judith Caspari, die fantastisch singt und schauspielerisch glänzt. Ihre Natalie ist quietschfidel und lebensbejahend und damit das krasse Gegenteil von Mutter Diana. Später flüchtet sie sich mit ihrem Freund Henry in Drogenexzesse. Diese Wandlung von dem lieben und musikalisch begabten Mädchen zur aufgedrehten 16-Jährigen, die keine Party und keine Droge auslässt, gelingt ihr ausgesprochen gut.

Für ein paar heitere Momente sorgt Andreas Wolfram, wie immer gewohnt souverän in Schauspiel und Gesang, in seiner sarkastischen Doppelrolle als Dr. Fine und Dr. Madden. Schauspielerisch wie gesanglich stark ist zudem die Darstellung von Natalies Freund Henry durch Timothy Roller, der wunderbar mit Judith Caspari harmoniert und ein glaubwürdiges Porträt eines kiffenden Jugendlichen zeichnet, der immer für seine Freundin da ist und um sie kämpft. Ein Kämpfer ist auch Dan, der verzweifelt versucht, die Familie zusammenzuhalten. Alexander di Capri gefällt in dieser Rolle ausgesprochen gut, wenn er den liebenden Ehemann und Vater gibt, der an der familiären Situation langsam verzweifelt und zu zerbrechen droht.

Neben der starken Handlung (Buch und Songtexte: Brian Yorkey, Übersetzung: Titus Hoffmann) ist es die Musik von Tom Kitt, die hier zu einem richtig guten Musicalbesuch beiträgt. Die musikalische Umsetzung obliegt in Kassel einer grandiosen achtköpfigen Band unter der Leitung von Peter Schedding. Lediglich die Latenz in der Tontechnik trübt das Hörerlebnis aus harten Rockriffs und fantastischen Popballaden.

Am Ende kann „Next to Normal“ durch eine exzellente Besetzung und die sehr intelligente Inszenierung überzeugen. Das Theater verlässt man – vielleicht sogar in Tränen aufgelöst – mit dem Gefühl, einen hervorragenden und besonders wertvollen Musicalabend erlebt zu haben. Chapeau!

Text: Dominik Lapp

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".