Berührt auch als Stream: „Kinky Boots“ in London
Weltweit sind die Theater nach wie vor geschlossen, die Kultur fehlt. Auf dem Youtube-Kanal „The Shows must go on“ werden deshalb weiterhin Musicals gestreamt. So war nun für 48 Stunden auch die Londoner Produktion von „Kinky Boots“ aus dem Adelphi Theatre zu sehen. Nicht nur live ist das Stück eine wunderbare Show – auf dem Bildschirm kommt genauso gut rüber, dass es ein sehenswertes Musical mit fantastischer Musik von Cyndi Lauper und einer berührenden Geschichte ist.
Basierend auf dem Film „Man(n) trägt Stiefel“ aus dem Jahr 2005, der wiederum auf einer wahren Begebenheit beruht, erzählt „Kinky Boots“ die Geschichte von Charlie Price aus Northampton, der die kurz vor der Pleite stehende Schuhfabrik seines Vaters erbt und sich – inspiriert durch die Drag-Queen Lola – erfolgreich auf Fetisch-Schuhwerk für Männer spezialisiert, um die Firma zu retten. Ganz exzellent fokussiert Regisseur Jerry Mitchell dabei die Themen Selbstfindung und Selbstrespekt und präsentiert das Stück nicht nur als eine von Anfang bis Ende unterhaltsame Show, sondern als geradezu emotionale Achterbahnfahrt.
Die Story wurde von Buchautor Harvey Fierstein äußerst liebevoll entwickelt, der so starke Aussagen wie „Sei du selbst“, „Akzeptiere jeden, wie er ist“ oder „Ändere dich und du änderst die Welt“ in den Fokus stellt. Getragen von sehr starken Charakteren, von denen jeder seine eigene Geschichte hat, ist ein spannendes und humorvolles sowie musikalisch anspruchsvolles Musical entstanden.
Cyndi Lauper hat einfallsreiche und sehr gut ins Ohr gehende Melodien komponiert, aus denen die poppige Seite der Komponistin gar nicht immer so stark hervorgeht. Vielmehr wechseln sich herrlich aufgebaute Balladen mit in die Beine gehenden Up-Tempo-Nummern ab, die perfekt in die Handlung integriert wurden und vom Orchester unter der Leitung von Jim Henson exzellent dargeboten werden.
Wer „Kinky Boots“ schon einmal gesehen hat, weiß nur zu gut, dass dieses Stück mit der Besetzung steht und fällt – und in London hat man ein starkes Duo für die beiden Hauptrollen gefunden. Matt Henry liefert in der Rolle der Lola ein umwerfendes Porträt einer Drag-Queen. Er füllt die Rolle mit viel Glanz und Glitter, steht immerzu im Mittelpunkt und beherrscht die Bühne absolut perfekt. Mit hingebungsvollem Schauspiel visualisiert Henry, dass Lolas Universum aus purer Unumgänglichkeit um sie selbst kreist. In allen Facetten begeistert er als Drag-Queen und ist genauso extravagant wie aufregend, genauso komisch wie theatralisch. Bei Lolas seelendemaskierenden Songs legt Matt Henry so viele Emotionen in den Gesang, dass er damit zu Tränen rührt.
Für Kilian Donnelly ist es in der Rolle des Schuhfabrikanten Charlie gewiss keine leichte Aufgabe, neben so einem exzellenten Kollegen zu bestehen. Doch Donnelly steht Henry in nichts nach. Er verleiht seiner Rolle Substanz, Gewicht sowie Authentizität und kann zudem gesanglich vollends überzeugen. Natalie McQueen gibt die Rolle der Lauren als sympathische Fabrikarbeiterin mit einem guten komödiantischen Timing und angenehmen Gesang, während Cordelia Farnworth als Charlies Freundin Nicola die wunderbare Zicke mimt.
Antony Reed und Sean Needham wurden ebenso gut besetzt. Während Reed als liebenswerter Vorarbeiter George, der sich von Anfang an auf Lolas Seite schlägt, sehr schnell Sympathiepunkte sammeln kann, gibt Needham den Fabrikarbeiter Don herrlich griesgrämig. Schauspielerisch vollzieht Sean Needham eine starke Wandlung, weil Don sich zunächst an Lola stört und schlussendlich doch erkennt, dass er Menschen so akzeptieren muss, wie sie sind.
Der Vorteil bei einem Streaming ist, dass die Kameras richtig nah am Geschehen sind und die Zusehenden zu Hause so einen ganz neuen Blickwinkel auf „Kinky Boots“ erhalten und mehr Details wahrnehmen können. Als echte Hingucker erweisen sich dabei die Stiefel und Kostüme von Gregg Barnes, doch das Bühnenbild von David Rockwell wird ebenfalls allen Erwartungen gerecht. Im Grunde besteht es hauptsächlich aus der Schuhfabrik Price & Son, die durch fahrbare Kulissenteile den Blick auf immer wieder neue Schauplätze freigibt.
Als ein vortrefflicher Regisseur und Choreograf erweist sich Jerry Mitchell, der „Kinky Boots“ stringent inszeniert hat und keine Längen aufkommen lässt. Zudem hat er die Charaktere stark herausgearbeitet und die von Buchautor Harvey Fierstein vorgegebenen Themen Selbstfindung und Selbstrespekt exzellent in den Fokus gestellt. Dass diese Botschaft auch im heimischen Wohnzimmer ankommt, ist nicht nur der Verdienst von Fierstein, sondern ebenso das Werk von Mitchell, der als Regisseur mit seiner starken Bühnencrew eine genauso authentisch-emotionale wie unterhaltsam-spaßige Bühnenshow geschaffen hat.
Text: Dominik Lapp