„Dear Evan Hansen“ auf Niederlande-Tour
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Aufwühlend: „Dear Evan Hansen“ in den Niederlanden

Mit der niederländischen Erstaufführung von „Dear Evan Hansen“ bringt Medialane eines der erfolgreichsten zeitgenössischen Musicals erstmals auf Tour durch die Niederlande. In der Übersetzung von Danny Westerweel und unter der Regie von Antoine Uitdehaag entfaltet sich ein berührendes, klug inszeniertes Stück über Einsamkeit, Identität und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit.

Seit seiner Uraufführung 2015 in Washington und dem späteren Broadway-Erfolg gilt „Dear Evan Hansen“ von Benj Pasek und Justin Paul (Musik und Songtexte) sowie Steven Levenson (Buch) als eines der wichtigsten Musicals seiner Generation. Die Geschichte um den sozial unsicheren Teenager Evan Hansen, der durch eine verhängnisvolle Lüge unerwartet in den Mittelpunkt einer Trauergemeinschaft rückt, ist zugleich schmerzhaft realistisch und tief tröstlich. Antoine Uitdehaags Inszenierung gelingt das Kunststück, diese Gratwanderung zwischen Intimität und Emotionalität fein auszubalancieren. Der Fokus liegt klar auf den acht Charakteren, deren Beziehungen in sorgfältig geführten Szenen plastisch und glaubwürdig wirken.

Das Bühnenbild von Roos Veenkamp ist eine Überraschung: Statt kalter Screens und Großstadtästhetik dominiert helles Holz. Auf mehreren Stufenebenen entsteht eine flexible Spielfläche, die mit wenigen Versatzstücken rasch zwischen High School, Wohnzimmer und Schlafzimmer wechselt. Links liegt Evans bescheidenes Zimmer, rechts das elegante Haus der Murphys – zwei Welten, die sich im Laufe des Abends immer stärker annähern. Ein besonderes Element ist, dass die Band sichtbar auf der Bühne platziert ist. Dieses offene Konzept verleiht der Aufführung eine lebendige, unmittelbare Energie und verstärkt das Gemeinschaftsgefühl, das das Stück thematisch so zentral verhandelt.

Die Kostüme von Daphne de Winkel zeichnen die Figuren präzise: Ob Evans schlichte Kleidung oder Zoës lässiger Stil – jedes Outfit erzählt etwas über Haltung und Herkunft. Die Projektionen von Arjen Klerkx werden gezielt eingesetzt: Sie begleiten Evans virale Rede mit eindrucksvoller medialer Überwältigung, finden aber im Schlussbild zu einer poetischen Ruhe, wenn sich auf der Leinwand ein Obsthain öffnet, der sich mit den zehn echten Obstbäumen auf der Bühne zu einem versöhnlichen Ganzen verbindet.

„Dear Evan Hansen“ auf Niederlande-Tour

Die Inszenierung lebt von einem außergewöhnlich geschlossenen Ensemble, in dem jede Figur Profil gewinnt. Ward van Klinken überzeugt als Evan Hansen mit einer berührenden Mischung aus Unsicherheit und Aufrichtigkeit. Seine Stimme trägt die emotionalen Höhen und Tiefen mühelos – besonders im Song „Zwaaien tot het pijn doet“ („Waving through a Window“). Marlijn Weerdenburg gestaltet Evans Mutter Heidi mit Wärme und innerer Zerrissenheit – ihr Solo „So groot / so klein“ („So big / so small“) ist einer der bewegendsten Momente des Abends.

Cystine Carreon als Cynthia Murphy zeigt eine große emotionale Spannweite zwischen Schmerz und Hoffnung, während Alex van Bergen als Larry Murphy eine beeindruckende Ruhe ausstrahlt. Lisa Schol bringt als Zoë eine fein abgestufte Mischung aus Trauer, Wut und Zärtlichkeit auf die Bühne. Pepijn van den Berg verleiht Connor Murphy in den wenigen Szenen große Präsenz – bedrohlich, verletzlich und letztlich menschlich. Naima Bayo als Alana überzeugt mit klarem Gesang und zeigt die Überforderung eines Mädchens, das helfen will, aber selbst Halt sucht. Dave Rijnders als Jared sorgt mit seinem pointierten Spiel für humorvolle Entlastung, ohne die traurige Geschichte zu brechen.

Die Musik von Benj Pasek und Justin Paul („The Greatest Showman“) trägt entscheidend zur Wirkung der Show bei. Mit ihrer Mischung aus modernen Popklängen und gefühlvollen Balladen gelingt es den Komponisten, die innere Zerrissenheit der Figuren authentisch und berührend zum Ausdruck zu bringen. Die Band überzeugt mit einem klaren, ausgewogenen Sound, der die Stimmen der Darstellerinnen und Darsteller nie überlagert, sondern sie sensibel begleitet.

Antoine Uitdehaag, der auch „Shakespeare in Love“ bei den Bad Hersfelder Festspielen inszeniert hat, führt das Ensemble mit sicherer Hand und viel Empathie. Er vertraut auf die Stärke der Figuren, statt auf Effekt. Die Choreografie von Dean Wijnands ist unaufdringlich, rhythmisch fein und fügt sich nahtlos in die emotionalen Bögen ein. So entsteht in den Niederlanden ein aufwühlender Abend, der das Publikum überwältigt und berührt. In Deutschland stellt sich hingegen die Frage, wann und wo sich nach dem Stadttheater Fürth noch mal ein Theater findet, das sich an dieses wundervolle Musical wagt.

Text: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".