Deutsches Theater Göttingen (Foto: Dominik Lapp)
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Eigensinnig-unterhaltsam: „Cabaret“ in Göttingen

Der intensivste Moment der Inszenierung gehört, gleich nach der Pause, den vier Tänzern des Ensembles (Germán Hipolito Farias, Wendel Lima, Pawel Malicki, Michael Tucker): Ausgerechnet in absolute Stille hinein, höchst ungewöhnlich für ein Musical, vollführen sie ihre atem(be)raubend synchronen Bewegungen; Rhythmusgeber ist einzig und allein ihr schärfer werdendes Atmen, während Moritz Schulze in der Rolle Ernst Ludwigs als genauer Beobachter (Aufseher?) im Bühnenhintergrund verweilt. Regisseur Aureliusz Śmigiel weiß ganz genau, was er an diesem Quartett hat, gönnt ihm in Runde eins des Schlussapplauses die letzte Verbeugung. Sie sind die – gar nicht einmal so – heimlichen Stars des Abends; das weiß und honoriert auch das Publikum dieser „Cabaret“-Inszenierung am Deutschen Theater Göttingen.

Doch gehen wir zurück zum Anfang. Bastian Dulisch ist weit weniger der „zwielichtige Conférencier“, als den ihn Dramaturg Matthias Heid apostrophiert, als vielmehr der devote Zirkusdirektor, der sich allabendlich im Kit-Kat-Club abspielt. Wobei dieser Eindruck lediglich daran liegen kann, dass ihm sein „Willkommen“ noch recht zurückgenommen über die Lippen kommt; bei „Money Money“ hat er endgültig seine Form gefunden, jedenfalls diejenige, welche ihm sein rockstareskes Outfit (Kostüm: Laura Yoro) abverlangt, das ihn eher in die Nähe von Guns’n‘Roses-Gitarrist Slash rückt als in diejenige der ikonischen Film-Verkörperung Joel Greys. Oder ist es Angst vor der eigenen Courage? Immerhin sind die ihn umschwärmenden Girls in Wahrheit Gents, beautiful aber allemal.

Die (all)gegenwärtige Transgender-Debatte wird also gleich zu Beginn an die Rampe gebracht. Und zu Ende. Der geschützte Raum der Kunst macht eben alles möglich. Das war in der Weimarer Republik so, das gilt noch heute. Nur abseits davon, auch das wird schlagartig klar, hat sich in hundert Jahren erschreckend wenig getan. Eine der Hauptursachen dafür, die Katastrophe des Nationalsozialismus und die Zäsur, die er hinterließ, lässt dieses Stück anklingen – im schlimmsten Sinne des Wortes: als Anbahnung. Sie werten die Bühnengestalten auf ihre Weise um – in einen schrecklichen Verdacht, in eine unausweichliche Entwicklung, in ein vorübergehendes Phänomen. Und sie reagieren darauf nach ihrem ureigenen Naturell. Mit Opportunismus – wie Ernst Ludwig (glaubhaft undurchsichtig und ambivalent: Moritz Schulze), der wohl eher aus persönlicher Vorteilsnahme denn aus politischer Überzeugung zum Nazi wird. Mit Ignoranz – wie Sally Bowles (sonderbar spröde, jedenfalls ohne klaren Hinweis darauf, warum sich ein junger, amerikanischer Schriftsteller ausgerechnet für sie interessieren sollte: Gaia Vogel), die ihre Verbindung zu Clifford Bradshow (in vielen Farben schillernd: Paul Trempnau) löst, sogar das gemeinsame Kind abtreibt, um weiter im Club, diesem vermeintlich „unpolitischsten Ort in Berlin“, den trügerischen Traum einer Bühnenkarriere zu träumen, bevor sie ihn gegen eine verhasste, aber immerhin sichere bürgerliche Existenz in Übersee eintauscht. Oder mit Pragmatismus, selbst wenn er gegen die eigenen Gefühle geht – wie Gastwirtin Fräulein Schneider (Gaby Dey), die ihre Verlobung mit Herrn Schultz (Ronny Thalmeyer) löst, um durch eine Ehe mit einem jüdischen Obsthändler nicht ihren Gewerbeschein zu verlieren, während Schultz die unvermeidliche politische Entwicklung nicht sehen kann, nicht sehen will, jedenfalls abtut. Dieser Dreischritt ins späte (Un-)Glück – das vorsichtige Umtanzen, das kurze und heftige Bekenntnis zueinander, schließlich das Trennende – funktionierte immer schon als Stück im Stück; Dey und Thalmeyer, zwei Urgesteine am Deutschen Theater Göttingen, machen daraus ihr Kabinettstückchen.

Thalmeyer übrigens spielte Herrn Schultz schon in der Göttinger „Cabaret“-Inszenierung von 2010. Im direkten Vergleich zur aktuellen konstatiert eine Besucherin: „Es ist schon sehr politisch geworden.“ Andererseits: Politisch war diese Bühnenadaption (Musik: John Kander, Gesangstexte: Fred Ebb, Buch: Joe Masteroff) schon immer; für das Publikum im Parkett durchzieht das Wissen um das, was kommen wird in den Jahren 1933 bis 1945, den Abend als Subtext, ganz gleich, wie viel frivole Fahrt er aufnimmt. Dass solch ein schwerer Stoff überhaupt zu einem der größten Musical-Erfolge und -Evergreens aller Zeiten avancieren konnte, grenzt schon beinahe an ein Wunder. Bis man die Musik hört.

„Even the band is beautiful.“ Wahre Worte, sofern sie deren Handwerk beschreiben. Denn das ist über jeden Zweifel erhaben. Elf Musiker insgesamt wurden für die Produktion verpflichtet – allein das ist, traurig genug, in Zeiten fortschreitender Orchesterschrumpfung (soweit es das Musicalgenre betrifft) schon eine Erwähnung wert. Michael Frei, der darüber hinaus Gitarre und Banjo bedient, lotet als Musikalischer Leiter die dynamischen Möglichkeiten und die Palette der Klangfarben seiner erfreulich starken Band-Besetzung voll aus. Süffig klingt das, weil wie aus einem Guss – und sorgt darüber hinaus für maximale Verständlichkeit von Gesagtem und Gesungenem.

Jósef Halldórsson kleidet die Klänge in ein ebenso spartanisches wie funktionales Bühnenbild, Aureliusz Śmigiel in einprägsame Bilder. Exemplarisch hierfür: die Szene nach der Verlobungsfeier zwischen Fräulein Schneider und Herrn Schultz, die von Ernst Ludwig gleichsam „hergerichtet“ wird. Er verteilt die Tropfen des Lüsters mit Bedacht auf der Bühne. Krachen tut es zwar erst im anschließenden Dialog, das Unausweichliche indes, das Schultz ignoriert und in das sich Schneider fügt, es ist von Anfang an da. Nur einmal entgleiten Śmigiel die Zügel in seiner ansonsten ebenso stringenten wie eigensinnig-unterhaltsamen Interpretation, wenn er durch ein homoerotisches „Pas de deux“ mit wechselnden Partnern ein landläufiges Klischee allzu sehr bemüht: Ernst Ludwig, so die Aussage, ist wie so viele andere Nazis letztlich ein verkappter Schwuler. Der „Witz“ ist alt. Und er wird kaum dadurch „komischer“, dass man seine Pointe totreitet. Aber wie gesagt: Das ist nur ein Ausrutscher. Der Rest der Schritte sitzt.

Text: Jan Hendrik Buchholz

Jan Hendrik Buchholz ist studierter Theaterwissenschaftler, Germanist sowie Publizist und lässt in verschiedenen Ensembles und als Solokünstler seit 1992 von sich hören, vorzugsweise eigenes Material. Als Rezensent schrieb er für das Onlinemagazin thatsMusical und die Fachzeitschrift "musicals". Zweieinhalb Jahre lang war er zudem Dramaturg sowie Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Allee Theater Hamburg, anschließend Leiter der Kommunikationsabteilung der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen.