„Cabaret“ in Bad Gandersheim (Foto: Julia Lormis)
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Geht unter die Haut: „Cabaret“ in Bad Gandersheim

Mit „Cabaret“ bringen die Domfestspiele in Bad Gandersheim dieses Jahr einen waschechten Klassiker auf die Bühne. Das Musical mit dem Buch von Joe Masteroff, der mitreißenden Musik von John Kander und den pointierten Texten von Fred Ebb, basierend auf den autobiografischen Erzählungen von Christopher Isherwood aus dem Jahr 1939, feiert im nächsten Jahr seinen 60. Geburtstag, könnte jedoch traurigerweise aktueller nicht sein. Das haben auch die Verantwortlichen in Bad Gandersheim um Regisseur Achim Lenz erkannt und eine zurückhaltende, aber überaus wirkungsvolle Inszenierung auf die Beine gestellt.

Die kleine Bühne, gestaltet von Birte Wallbaum, ist raffiniert in zwei Ebenen gegliedert: Unten befindet sich ein Bereich für die Musiker, über dem sich eine Brücke spannt. Von dort aus betreten die Mitwirkenden die Szenerie durch einen samtroten Vorhang, um anschließend über Treppen zu beiden Seiten auf die Hauptbühne hinabzusteigen. Diese ist schlicht gehalten – ausgestattet lediglich mit einigen roten, rollbaren Tischen und schwarzen Stühlen. Hoch oben an der Brücke prangt unübersehbar das leuchtende Logo des Musicals „Cabaret“.

Mehr technische Spielereien gibt es nicht. Die Bühne ist gut ausgeleuchtet, sobald es dunkel wird, verfolgen Spots die Spielenden. Mehr braucht es aber auch nicht, da der Regisseur hier eine unglaublich harmonische, schauspielerisch wie gesanglich herausragende Cast zusammengestellt hat.

Marlene Jubelius zeigt die starke Zerrissenheit ihrer Sally Bowles durch anfänglich forsches, provozierendes und flirtendes Auftreten. Ihre Gesangsparts sind allesamt sauber intoniert und mit viel Gefühl dargeboten. Ihre Sternstunde hat sie jedoch in ihrem letzten Auftritt mit dem Titelsong, in dem sie in einem durchsichtigen schwarzen Kleid mit tränenverschmiertem Make-up auf die Bühne wankt und mit zitternder, aber dennoch nicht verwaschener Stimme ihre Darbietung zeigt. Obwohl man nicht gesehen hat, dass ihre Figur eine Abtreibung hinter sich hat, weiß man im Moment ihres Auftritts, dass sie direkt von der Arztpraxis in den Club gekommen sein muss.

Johannes Krimmels Cliff Bradshaw zeigt ein wundervolles Minenspiel. Als er Sally zum ersten Mal sieht und sie ihren Song „Sag’s nicht Mama“ präsentiert, fallen ihm fast die Augen aus dem Kopf. Mit leuchtenden Augen verfolgt er die Darbietung, und man erkennt von Weitem, dass es Cliff schwer erwischt hat. Er spielt den Amerikaner sehr überzeugend, da er auch ein sehr wohlklingendes Englisch verwendet, was den Kontrast zu den extremen deutschen Akzenten von Fräulein Schneider und Ernst Ludwig noch erhöht.

Tabea Scholz ist auf den ersten Blick ein wenig zu jung für die Rolle der Fräulein Schneider. Vielleicht hätte man hier mit Maske und einer noch älter wirkenden Perücke das Alter ein wenig besser herausarbeiten können. Dennoch spielt auch sie mit einer unvergleichlichen Leidenschaft. Zwischen ihr und Kevin Dickmann stimmt die Chemie, und es ist jedes Mal eine Freude, den beiden zuzusehen – wenngleich es im Lauf des Stücks eine bittersüße Freude wird. Ihr Duett „Heirat“ tragen sie ungemein gefühlvoll vor, ihre Trennung ist herzzerreißend.

Dickmanns schauspielerische Performance kann man kaum in Worte fassen. Er agiert insbesondere körpersprachlich und mimisch derart fein nuanciert, dass er damit ein unglaubliches Mitgefühl erzeugt. In Gegenwart Fräulein Schneiders zittern seine Hände. Nicht ständig, sondern nur hin und wieder, und niemals übertrieben. Wenn er verlegen ist, nestelt er an seinen Manschettenknöpfen. Besonders eindringlich ist sein Blick, als Fräulein Kost und Ernst Ludwig nach seiner Denunziation singen, er sei kein Deutscher – ein Moment, der auf fast schon grausame Weise unter die Haut geht. Er braucht keine Worte, um viel über seinen Charakter zu verraten. Aber wenn er spricht, setzt er die Stimme gekonnt und variantenreich ein – im Gesang wie im Gesprochenen.

„Cabaret“ in Bad Gandersheim (Foto: Benedikt Ziebarth)

Tim Müller zeigt seinen Ernst Ludwig sehr großkotzig, was gut zu der Rolle passt. Wenngleich er als Schmuggler versteckt bleiben muss, wird deutlich, dass er sich durch seine Zugehörigkeit zu den Nationalsozialisten immer mehr herausnehmen kann. Als er beginnt, sich der Partei langsam zuzuwenden, erscheint er interessanterweise in einem blauen Anzug.

Dass er immer mehr zur Marionette wird, hat Dominik Müller beim Song „Geld“ sehr eindrucksvoll choreografiert. Während Ludwig den Hitlergruß zeigend auf der Bühne steht, greift der Conférencier mit einem lauten „Nein“ ein, schlägt seinen Arm herunter, stellt sich hinter ihn und benutzt ihn als Münzautomaten. Anschließend beginnt er, Ludwig eine Stimme zu geben und ihn zu bewegen, während Ludwig starr geradeaus sieht und nur die Lippen bewegt.

Der heimliche Star der Inszenierung ist Hagen-Goar Bornmann in seiner Rolle als Conférencier. Er beweist Improvisationstalent, was ihm einige Lacher einbringt. Während er sich innerhalb seiner Rolle ab und zu an das Publikum wendet, schafft er es, einen Patzer eines Kit-Kat-Girls charmant in die Darbietung einzubauen, indem er ihr mit einer tiefen Stimme zuraunt, dass er sie wohl nervös mache, als sie einen mobilen Vorhang fallen lässt, hinter dem er sich umziehen muss. Stimmlich überzeugt auch er, genau wie der Rest des Ensembles, und schafft es, dass einem in seiner letzten Performance ein Schauer über den Rücken läuft.

Dazu trägt jedoch auch die Choreografie von Dominik Müller bei. Im Finale holen die Kit-Kat-Mitarbeiter rechts und links aus der Treppenverkleidung zwei Teile heraus, die sie vor der Band auf der Bühne zu einem am Boden stehenden Hakenkreuz zusammenstecken. Anschließend treten alle in Uniformen der Hitlerjugend auf und marschieren, ähnlich wie es die Nationalsozialisten zur damaligen Zeit oft getan haben, in einer Linie hin und her. Als Herr Schultz auftritt, bildet er – unfassbar traurig und ängstlich dreinschauend – das Zentrum, um das alle herummarschieren. So treten sie alle durch das Publikum von der Bühne ab. Sie marschieren ab.

Es folgt Bornmanns letzter Auftritt: In schwarz-roter Garderobe, nahezu abgeschminkt, bewegt er sich ruckartig, lacht außer sich, verrückt, geradezu diabolisch und beginnt, alles auf der Bühne zu zerstören. Letztlich auch das Hakenkreuz. Dann geht er langsam seitlich ab und singt die letzten Worte „Auf Wiedersehen, à bientôt“ und schließt mit einem leise und eher gebrochen gesprochenen „Gute Nacht“.

Die Bad Gandersheimer Inszenierung zeigt, dass es nicht viel braucht, um eine enorme Wirkung zu erzeugen. Diese rührt auch daher, dass unsere gegenwärtige politische Lage durchaus Parallelen zur damaligen Zeit aufweist. Achim Lenz greift dies unterschwellig und in pointierten Dialogen auf und schafft eine Inszenierung, die eine Gänsehaut verursacht – euphorisierend durch grandiose schauspielerische, musikalische (Leitung: Ferdinand von Seebach) und gesangliche Darbietungen, schockierend und gruselig durch die Dialoge, Inszenierung und Kostümwahl. So trägt das Kit-Kat-Ensemble nicht ohne Grund beim Schlussapplaus T-Shirts mit der Aufschrift „Nie wieder“. Dem kann nur zugestimmt werden. Gerade im Hinblick auf die aktuelle Zeit – eine absolut sehenswerte Inszenierung!

Text: Anna-Lena Ziebarth

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Anna-Lena Ziebarth bringt langjährige Erfahrung als Rezensentin mit und war in der Vergangenheit bereits für thatsMusical tätig, bevor sie zu kulturfeder.de kam.