„Bis keiner weint“ (Foto: Katharina Karsunke)
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Modernes Meinungsmärchen: „Bis keiner weint“ in Berlin

Neue Musicals braucht das Land! Was etwas abgedroschen klingen mag, bewahrheitet sich wieder einmal mehr, als die Drittsemester der Universität der Künste Berlin (UdK) in Koproduktion mit der Neuköllner Oper das jährliche Abschlussstück zur Uraufführung bringen: „Bis keiner weint“ aus der Feder des erfolgreichen Trios Constanze Behrends (Buch), Franziska Kuropka (Buch und Liedtexte) und Lukas Nimschek (Komposition) unter der Regie von Mathias Noack, ist in diesem Jahr die Geschichte um die brisante Frage: Wie politisch korrekt müssen Unterhaltung und Kunst heutzutage sein und wo liegen Grenzen? Ist es überhaupt noch möglich im Jahr 2023, gerade als Kulturbranche, alle Geschlechtergruppen, Ethnien und sexuelle Orientierungen zu erreichen, ohne jemanden auszugrenzen oder fallen zu lassen? Sind wir als Gesellschaft mittlerweile so weit, uns selbst zu verzetteln und in allem misszuverstehen?

Vanessa Edler ist Juniorproduzentin bei einem aufstrebenden Streamingdienst und steht vor der scheinbar größten Aufgabe ihrer bis dato jungen Karriere: Die Verfilmung einer modernen, politisch korrekten Neufassung des Märchenklassikers „Schneewittchen“. Und noch viel mehr: „Schneewittchen“ soll im Zuge der Gewinnmaximierung alle ansprechen und inkludieren, männlich, weiblich, divers, von LGBTQIA+ über die Rentnerin bis hin zum Enkel: „Jedermensch“ sozusagen oder auch, „bis keiner mehr weint.“ Dafür stellt sie ein scheinbar talentiertes, aber auch sehr kontroverses Kreativteam zusammen: Ihr homosexueller Bruder Philipp, ein oberflächlicher Drehbuchautor aus dem Privatfernsehen, der sich doch lieber an die klassischen Rollenmuster hält, Jasmina Rau, eine bekannte Frauenrechtlerin und Autorin, die eigentlich die Hoffnung hatte, ihren feministischen Erfolgsroman verfilmt zu sehen, Influencerin Lilly Juice, deren Schauspielerfahrung höchstens darin besteht, Instagram-Videos zu produzieren und letztendlich August Kling, ein Serienstar, auf der Suche nach der nächsten Heldenrolle, um sich selbstverliebt feiern zu können. Sie alle sorgen mit ihren Gedanken, Ideen und Weltanschauung für eine explosive Mischung. Kann das gut gehen? Und sollte man, wenn man schon über Political Correctness spricht und sie vor der Kamera verkörpert, diese nicht auch selbst ausleben?

Die Bühne von Lukas Pirmin Wassmann ist betont schlicht gehalten. Lediglich fünf wendige und mobile Glaskästen, die an das Märchen von „Schneewittchen“ erinnern und in denen die Darstellerinnen und Darsteller parallel, so nah und doch so fern, zeitweise agieren, sorgen für eine gelungene, bildliche Abwechslung im Geschehen. Licht und Ton unterstreichen dies gekonnt für die richtige Stimmung im Saal. Mit einem energetischen Spiel und äußerst qualitativer Darbietung kreieren die fünf jungen Nachwuchskünstlerinnen und -künstler in farblich passenden, jugendlich-modernen, auf die aufstrebende Generation Z zugeschnittenen Kostümen (ebenfalls von Lukas Pirmin Wassmann) einen amüsanten, kurzweiligen und sehr nachwirkenden Abend, an dem einen manchmal das Lachen im Halse steckenbleibt.

Allen voran beherrscht Anna-Sophie Weidinger als Boss oder – natürlich richtig gegendert –  als Bossin der Truppe, in ihrer Funktion als Juniorproduzentin den Ton und hält die zerbrechlichen Fäden, zumindest zu Beginn, fest in ihrer Hand. Mit einer wahrlich beeindruckenden Bühnenpräsenz, hervorragender, ausdrucksstarker Mimik und einem wundervollen Stimmvolumen kreiert sie eine Figur, die einerseits nur so vor Selbstbewusstsein strotzt und schlussendlich ihre verletzliche Seite mit dem Laufe der Handlung nicht mehr verstecken kann. Auch ihr Bruder Philipp (Nathan Johns) wirkt nach außen hin äußerst cool, beinahe abgedroschen, und ist dennoch scheinbar immer noch auf der Suche nach seinem eigenen Platz und Zuhause in der Gesellschaft. Mit einem äußerst schönen stimmlichen Timbre, das aufhorchen lässt, schafft Johns den Wandel vom anfänglich wenig mitfühlenden und scheinbar oberflächlich gestrickten Macho, zum sympathischen, letztendlich ebenfalls zerbrechlichen Individuum.

Tara Friese gibt eine starke, leicht einschüchternde und zugleich fragile feministische Erfolgsautorin Jasmina und schafft es mehr als einmal, mit ihrem faszinierenden Ausdruck und ihrer charakterstarken Stimme zu berühren. Lilly Juice (Laura Goblirsch) demonstriert als Vierte im Bunde, dass Influencerinnen nicht unbedingt blond und blöd sind und weitaus mehr können, als unterhaltsame Videos zu drehen. Goblirsch gelingt sehr anschaulich und mitfühlend eine hart arbeitende und vom großen Erfolg träumende Protagonistin darzustellen, die sich nichts sehnlicher wünscht, als mit dem, was sie tut und wer sie ist, von der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Ein Spagat zwischen eigenen Wünschen, Hoffnungen und der Abhängigkeit von Followern, Aufrufen, Klicks und der Meinung anderer. Beeindruckend gewinnt sie hier am Ende das Spiel für sich selbst.

Fabio Kopf als August Kling komplettiert die Fünfer-Riege auf ganz außerordentliche Art und Weise. Gesanglich klangvoll und tänzerisch sehr talentiert, welches sich in seinem wunderbaren Steppsolo (Steppchoreografie: Marie-Christin Zeisset) äußert, gibt er letztendlich den großen Star, der an Cancel Culture beinahe zu zerbrechen droht. Ein spürbar hochexplosives Feuerwerk an Emotionen, Meinungen, Argumenten und Gefühlen schafft exzellent den Zwiespalt und die teils verhärteten Fronten unserer Gesellschaft widerzuspiegeln, so dass man am Ende als Publikum atemlos, ja fast erschlagen und mit einem Kopf voller Fragen zurückbleibt.

Musikalisch hochwertig und abwechslungsreich begleitet werden die fünf Protagonistinnen und Protagonisten durch die sich im Hintergrund nur durch einen leicht transparenten Vorhang getrennt befindende Band (Musikalische Leitung: Tobias Bartholmeß). Balladen und temporeiche Nummern geben sich gekonnt die Klinke in die Hand und schaffen es, jedem der jungen Künstlerinnen und Künstler eine ganz besondere Note aufzudrücken. Und da wir hier ja schließlich auch von Musical sprechen, dürfen natürlich typische Musicalnummern (Achtung, Ironie!) nicht fehlen. Am Ende bleibt definitiv der ein oder andere Ohrwurm zurück. Hierbei wäre es im Nachhinein schön gewesen, diese in einer Songlist einsehen und nachlesen zu können.

Die Regieführung von Mathias Noack erlaubt das wunderbare Ausspielen aller einzelnen Charaktere und dem facettenreichen, bis zum Rand mit Ideen gefüllten Buch ist es zu verdanken, dass sich Dialoge, musikalische Nummern und Tanzeinlagen (Choreografie: Sabine Hack) gekonnt abwechseln und für einen angenehmen Fluss sorgen. Ist der erste Akt doch um einiges amüsanter, gespickt mit viel Ironie und (schwarzem) Humor, werden im zweiten Teil ernstere Seiten aufgefahren und genauer hinter die einzelnen Fassaden geblickt. Fast schon erschreckend ist, dass um Serienstar August ein Skandal aufgedeckt wird, der sich genauso in unseren aktuellen Medien abspielt. Auch hier wird diskutiert: Wann ist ein Nein ein Nein? Und wann ist es trotzdem ein Nein, auch wenn kein Nein ausgesprochen wird? Und was macht das mit einem, wenn Frau nicht Nein sagt, aber ein Nein meint? Welche Chancen hat Mann dann noch?

Sprach man zu Beginn noch von Political Correctness, findet man sich mittlerweile in einem wahrlichen Strudel von Themen wie Identitätssuche, Ausgrenzung von Minderheiten, PoC-Diskussion, Social-Media-Bashing, Me-Too-Debatte, Cancel Culture und die stets vorherrschenden, teils sehr starren Machtstrukturen in unserer Gesellschaft. Vielleicht wäre hier etwas weniger mehr gewesen – als  Zuschauerin beziehungsweise Zuschauer taumelt man von einem thematischen Höhepunkt zum nächsten. Ist die Welt, in der wir leben, wirklich so herausfordernd und teils absurd, wie man sie hier vorgehalten bekommt?

„Bis keiner weint“ ist ein modernes Meinungsmärchen oder, wie Regisseur Mathias Noack es betitelt, „ein musikalisch-politischer Spagat zwischen Kunst und Korrektheit.“ Die fünf Studierenden der Universität der Künste Berlin zeigen am umjubelten Premierenabend, dass die UdK nicht ohne Grund als Talentschmiede in der deutschsprachigen Musicalbranche gilt. Fünf Künstlerinnen und Künstler, die als Einheit perfekt aufeinander abgestimmt agieren und beeindruckend die herausfordernde Fülle und Vielschichtigkeit des Buches umsetzen. Da bleibt nur gespannt abzuwarten, wohin sie ihr Weg nach dem Abschluss führen mag. Chapeau!

Text: Katharina Karsunke

Katharina Karsunke ist Sozial- und Theaterpädagogin, hat jahrelang Theater gespielt, aber auch Kindertheaterstücke geschrieben und inszeniert. Ihre Liebe fürs Theater und ihre Leidenschaft fürs Schreiben kombiniert sie bei kulturfeder.de als Autorin.