„Aspects of Love“ (Foto: Martina Pipprich)
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Grandioses Kleinod: „Aspects of Love“ in Münster

Extrem selten gespielt, aber wohl sein intimstes und persönlichstes Werk ist das Musical „Aspects of Love“ von Andrew Lloyd Webber mit dem Libretto von Don Black und Charles Hart (Übersetzung: Michael Kunze). Am Theater Münster ist dieses grandiose Kleinod jetzt in einer sehenswerten Inszenierung von Carsten Lepper mit einem durchweg fantastischen Ensemble zu sehen.

Mit Lepper wurde ein Experte verpflichtet, den „Aspects of Love“ bereits seit Beginn seiner Karriere begleitet. Laut seiner Aussage, soll die Londoner CD zu dem Musical die erste Scheibe gewesen sein, die er sich einst von seinem Taschengeld gekauft hat. Später dann übernahm Lepper in der Schweizer Erstaufführung die Rolle des Alex Dillingham, eine Kammerfassung des Werks inszenierte er 2020 in Wien. In Münster packt es der Regisseur jetzt richtig an, inszeniert das Werk auf der großen Bühne mit Gästen und Hausensemble, Chor und Orchester – in einem Bühnenbild von Charles Quiggin, das im Laufe des Abends 40 Szenenwechsel ermöglicht.

Die Handlung, die auf dem 1955 erschienenen Roman von David Garnett basiert, ist genauso dünn wie verwirrend und nicht mehr wert als ein Groschenroman. Sie erzählt von dem 17-jährigen Alex Dillingham, der sich in die erfolglose 20-jährige Schauspielerin Rose Vibert verliebt, die dann wiederum Alex‘ Onkel George heiratet. Viele Jahre später treffen sich alle wieder und Jenny, die 15-jährige Tochter von Rose und George, verliebt sich in Alex, der noch immer Rose liebt. Als George stirbt, erscheint dessen frühere Geliebte, Giulietta, bei der Beerdigung. Während Jenny und Rose nun um Alex‘ Herz kämpfen, entscheidet dieser sich für eine Zukunft mit Giulietta. Mutter und Tochter bleiben mit gebrochenen Herzen allein.

Was bei dieser Story deutlich wird: Das Leben schreibt die unglaublichsten Geschichten und verläuft oftmals alles andere als logisch oder herkömmlich. Was bei „Aspects of Love“ außerdem deutlich wird: Wir haben es hier nicht mit einem typischen Lloyd Webber zu tun – keine Katzen auf einem Schrottplatz, keine herabstürzenden Kronleuchter, keine singenden Züge, kein rockender Messias und keine argentinische First Lady, die mit Ché Guevara Walzer tanzt. Nein, wir erleben am Theater Münster eine Art Kammerstück mit nur fünf Hauptcharakteren. Es ist ein Stück, das von großen Melodien lebt, die sich immerzu wiederholen – und es beginnt mit der Hymne „Wer versteht, was Liebe ist?“, einer typischen 11-o’clock-Nummer, die vom Komponisten kurioserweise direkt an den Anfang gestellt wurde.

Carsten Lepper legt den Fokus seiner Regie auf die Hauptcharaktere, deren Gefühle, das große Verwirrspiel um die Liebe. Schnelle Szenenwechsel bringen Tempo in die Inszenierung, die allerdings durch zu lange Blacks zwischen den Szenen etwas ausgebremst wird. Hier wären filmisch fließende Übergänge schöner gewesen. Sehr gelungen ist jedoch im ersten Akt der Übergang vom Bahnsteig über eine ausfahrende Lokomotive ins Zugabteil.

Als ein Höhepunkt erweist sich das ausladende Bühnenbild von Charles Quiggin, der viele einzelne Elemente und Versatzstücke geschaffen hat, um beispielsweise eine Villa, ein Atelier oder ein Café anzudeuten. Visuell unterstützt wird die Szenerie durch schöne Videoanimationen von Christian Ariel Heredia, der es so nicht nur schneien lässt, sondern auch erklärt, an welchem Ort und in welchem Jahr wir uns befinden. Die Kostüme von Ales Valásek orientieren sich an der französischen Mode aus der Mitte des 20. Jahrhunderts und unterstreichen die einzelnen Charaktere hervorragend. Wunderschön, obwohl nahezu unscheinbar, ist zudem die ästhetische Choreografie von Vanni Viscusi.

Musikalisch und schauspielerisch wird bei „Aspects of Love“ ebenfalls aus dem Vollen geschöpft. Allen voran sind es drei extrem starke Frauen, die hier brillieren. Zuallererst ist Katja Berg zu nennen, die als Rose große Wandlungsfähigkeit beweist und durch ihre Authentizität begeistert. Jedes Wort, jede Nuance ihrer Mimik nimmt man ihr ab. Gesanglich strahlt sie zweieinhalb Stunden lang in den höchsten genauso wie in den tieferen Lagen, mit ihrem Solo „Alles, nur nicht einsam“ setzt sie einen emotionalen Glanzpunkt.

Einen bleibenden Eindruck hinterlässt außerdem Deike Darrelmann als Jenny, die nicht nur makellos schön singt, sondern glaubwürdig die 15-jährige Teenagerin mimt, die ihre Reize zu nutzen weiß, um den wesentlich älteren Alex zu verführen. Trotz ihrer vergleichsweise kleinen Rolle bleibt auch Floor Krijnen positiv in Erinnerung, wenn sie ihre Giulietta als betörende Femme fatale gibt.

Gregor Dalal gefällt als George durch große Bühnenpräsenz, Sinn für Humor und seinen wohltönenden Bariton. Mark Roy Luykx gelingt als Alex die Wandlung vom jugendlichen Schwärmer zum gereiften und sich seiner Verantwortung bewussten Mann. Darüber hinaus meistert er seinen Part gesanglich mit sauberer Artikulation, dem nötigen Schmelz, brillanten Höhen und schön ausgehaltenen Schlusstönen.

Durch den Abend getragen werden die Sängerinnen und Sänger vom Sinfonieorchester Münster unter dem Dirigat von Henning Ehlert, der seine Musikerinnen und Musiker exzellent durch Andrew Lloyd Webbers anspruchsvolle Partitur leitet. So entfaltet sich bereits nach wenigen Minuten die Klangschönheit von Lloyd Webbers Musik, die sicher zu seinen besten Kompositionen zählt. Wer vertraut genug ist und genau hinhört, wird Motive aus anderen Shows des Komponisten – zum Beispiel aus „Liebe stirbt nie“ – erkennen können. Schon aufgrund der fantastischen Musik mit ihren schwelgerischen Streicherpassagen sollte man „Aspects of Love“ in Münster auf keinen Fall verpassen. Definitiv eine der besten Musicalproduktionen des Jahres 2022!

Text: Dominik Lapp

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".