"Anatevka" Foto: Jörg Landsberg
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Solide Inszenierung: „Anatevka“ in Osnabrück

„Anatevka“ gilt als großer Musical-Klassiker, wurde auf den Bühnen weltweit hoch- und runtergespielt. Und dennoch bleibt es ein Musical ohne große Melodien, das mehr Schauspiel als Musiktheater ist, weil so wenig Musik (14 Lieder, verteilt auf zwei Akte) darin vorkommt. Und die Handlung? Die spielt im Jahr 1905 und ist einerseits zwar bedrückend, andererseits aber auch so dünn, dass sie auf einen Bierdeckel passt: Der Milchmann Tevje hat drei Töchter, die er unter die Haube bringen möchte. Entgegen seiner Vorstellung heiraten sie jedoch keine reichen Männer, sondern einen armen Schneider, einen jungen Russen und einen Studenten. Schlussendlich werden Tevje, seine Töchter und die anderen Bewohner aus dem Dörfchen Anatevka vertrieben – weil sie Juden sind.

Die aus Film und Fernsehen bekannte Schauspielerin Adriana Altaras, die erst kürzlich selbst die Golde in „Anatevka“ am Hamburger St. Pauli Theater spielte (wir berichteten), hat das Musical von Jerry Bock (Musik), Sheldon Harnick (Songtexte) und Joseph Stein (Buch) nun für das Theater Osnabrück inszeniert. Dabei ist es ihr gelungen, einen durchaus kurzweiligen und zum Nachdenken anregenden Theaterabend zu kreieren. Besonders gelungen ist Altaras‘ Einfall, die Handlung in das Innere einer Synagoge zu verlegen.

Das windschiefe und leicht heruntergekommene Gotteshaus (Bühnenbild: Martin Fischer) ist der Dreh- und Angelpunkt der Handlung, an dem alle Szenen – sowohl innen als auch außen – spielen. Die abstrakt gestaltete Synagoge stellt dabei genauso einen Zufluchtsort wie Tevjes Haus, Mottels Schneiderei oder die Straßen Anatevkas dar. Die Optik des Bühnenbildes zieht sich weiter durch die zeit- und themengemäßen Kostüme von Yashi Tabassomi, bis hinein in den Orchestergraben, wo die männlichen Musiker jüdische Gebetskappen – Kippa genannt – auf ihren Hinterköpfen tragen.

Wer aber „Anatevka“ in Osnabrück erst wirklich zu einem kurzweiligen Abend macht, ist ein Mann aus dem Schauspielensemble des Hauses: Thomas Schneider in der Rolle des Milchmanns Tevje. Was für eine Leistung – grandios seine Monologe zu Gott, markerschütternd seine Wutausbrüche, herrlich seine Freudensprünge. Schneider lebt seine Rolle in allen Facetten perfekt aus, so dass es große Freude bereitet, ihm dabei zuzusehen. Angesichts seiner schauspielerischen Brillanz ist letztendlich auch zu vernachlässigen, dass er den viel zu oft gehörten Gassenhauer „Wenn ich einmal reich wär“ nicht wirklich singend, sondern vielmehr sprechend zu Gehör bringt.

An Scheiders Seite steht Angelika Bartsch, die ganz wunderbar Tevjes Ehefrau Golde gibt. Eva Schneidereit – schauspielerisch souverän – lässt dagegen als Hodel in ihrem Gesang die Leichtigkeit vermissen. Astrid Kessler singt und spielt eine wunderbare Zeitel und überzeugt vor allem in einer Traumsequenz als Oma Zeitel. Als dritte Tochter im Hause Tevjes bleibt Magdalena Helmig als Chava buchbedingt etwas blass. Die Männerriege kann dagegen durchweg überzeugen – vom stotternden Schneider Mottel (Marco Vassali), über den Studenten Perchik (Jan Friedrich Eggers), bis hin zum Russen Fedja (Daniel Wagner). Ebenfalls rollendeckend: Mark Hamman als Lazar Wolf.

Im Orchestergraben liegt das Dirigat in den Händen des musicalerfahrenen Till Drömann, der sein kleines elfköpfiges Orchester sicher durch die stellenweise in Melodie und Rhythmus gebrochene Partitur von Jerry Bock leitet. Ein gelungener Einfall dabei ist, die Violinistin Georgiana A. Costache als Fiedler auf dem Dach (in Anlehnung an den englischen „Anatevka“-Titel „Fiddler on the Roof“) in das Bühnengeschehen zu integrieren. Sehens- und hörenswert auch die von Dimas Casinha choreografierten Massenszenen, in denen der stimmstarke Chor gemeinsam mit den Solisten zum Einsatz kommt, wie zum Beispiel zu Beginn des ersten Akts oder zu Zeitels und Mottels Hochzeitszeremonie.

Nach fast dreistündiger Vorstellung zeigt sich, dass Thomas Schneider als Tevje das schwache Musical gerettet und Adriana Altaras als Regisseurin das Beste aus dem Buch herausgeholt hat. Insgesamt also einerseits ein buch- und musikbedingt eher ernüchternder Musicalbesuch, andererseits aber eine solide Inszenierung und ein grandioser Hauptdarsteller, die einen kurzweiligen Abend im Osnabrücker Theater garantieren.

Text: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".