Herausragend, aber zu teuer: „Anatevka“ in Erfurt
Zehn Jahre ist es her, dass das Musical „Anatevka“ zuletzt am Theater Erfurt zu sehen war. Jetzt ist das Werk in einer gelungenen Neuinszenierung von Ulrich Wiggers erneut in der thüringischen Hauptstadt zu sehen – dieses Mal allerdings im Rahmen der Domstufen-Festspiele unter freiem Himmel auf der riesigen Treppe des Erfurter Doms.
Wiggers‘ Inszenierung ist ein herausragendes Beispiel für die gelungene Verbindung von traditioneller Erzählkunst und moderner Bühnentechnik. Unter dem Dirigat von Clemens Fieguth erstrahlt das berühmte Werk von Jerry Bock (Musik), Sheldon Harnick (Songtexte) und Joseph Stein (Buch) musikalisch in neuem Glanz. Das Orchester, obwohl nicht live vor Ort, sondern aus dem Theater übertragen, liefert eine kraftvolle und präzise Untermalung, die den emotionalen Kern der Geschichte eindrucksvoll unterstützt. Die Musik bleibt ein tragendes Element der Aufführung und transportiert die Höhen und Tiefen im Leben des Milchmanns Tevje mit einer Mischung aus Melancholie und Lebensfreude. Einziger Wermutstropfen: das dreistündige Werk ist mit nur 14 Liedern eigentlich mehr Schauspiel mit Musik als ein Musical.
Leif Erik Heine, der für das Bühnenbild verantwortlich ist, hat eine kreative und symbolträchtige Szenerie geschaffen. Das zentrale Element ist eine überdimensionale Milchkanne, die hoch über den Treppen thront und einen Milchstrom erzeugt, der die Stufen hinabfließt. Dieses visuelle Motiv der verschütteten Milch wird im Verlauf der Aufführung immer wieder aufgegriffen und steht symbolisch für den Verlust und die Zerbrechlichkeit des Lebens. Das Einschussloch in der Kanne ist ein düsteres, aber kraftvolles Symbol für die Gewalt, die das jüdische Volk erfahren hat, und verleiht der gesamten Inszenierung eine beklemmende Authentizität.
Bereits zu Beginn der Aufführung zieht ein Bild die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich: Ein Fiedler steht auf der überdimensionalen Milchkanne, am Ende der Aufführung wechselt dieser seinen Standort und spielt auf einem Dach, was das metaphorische Spiel mit dem Balanceakt des Lebens unterstreicht und ein direkter Verweis auf den englischen Originaltitel des Musicals („Fiddler on the Roof“) ist.
Die Cast bietet durchweg überzeugende Leistungen. Darunter sind Künstlerinnen und Künstler, die schon vor zehn Jahren bei „Anatevka“ in Erfurt auf der Bühne standen – allerdings in anderen Rollen. Máté Sólyom-Nagy, der damals den Perchik spielte, beeindruckt jetzt in der Rolle des Tevje mit einer charismatischen Bühnenpräsenz und einer stimmlichen Kraft, die die Zerbrechlichkeit und den Trotz seiner Figur in den verschiedenen Lebenslagen spürbar macht.
Brigitte Oelke als seine Frau Golde verleiht ihrer Rolle eine solide und erdige Aura, die perfekt mit Tevjes Schwanken zwischen Tradition und Veränderung harmoniert. Die Töchter, gespielt von Daniela Gerstenmeyer (damals Hodel, heute Zeitel), Hannah Miele (Hodel) und Gioia Heid (Chava), überzeugen nicht nur durch ihre gesanglichen Leistungen, sondern auch durch ihr einfühlsames Spiel, das die unterschiedlichen Wege der Emanzipation und das Ringen um die eigene Identität feinfühlig darstellt.
Besonders hervorzuheben ist auch die Darstellung von Bosse Vogt als Mottel, dessen Schüchternheit und Liebenswürdigkeit im Zusammenspiel mit Zeitel eine der rührendsten Liebesgeschichten des Musicals zum Leben erwecken. Denis Riffel als revolutionärer Perchik und Jörg Rathmann (spielte damals Mottel) als wohlhabender Lazar Wolf bieten beide kontrastreiche und dennoch glaubwürdige Interpretationen ihrer Figuren, die die gesellschaftlichen Spannungen und die Umbrüche der Zeit reflektieren. Mit beeindruckender Vielseitigkeit spielt Gudrun Schade zudem die Heiratsvermittlerin Jente, Oma Zeitel und Fruma-Sara.
Die Choreografie von Kati Heidebrecht fügt sich nahtlos in die Inszenierung ein und sorgt insbesondere in der Eröffnungsnummer und der Wirtshausszene für beeindruckende Momente. Die tänzerischen Einlagen sind dynamisch und präzise, sie fangen die kollektive Energie der Dorfgemeinschaft ein und machen die Choreografie zu einem der Höhepunkte der Aufführung. Die Traumsequenz, bei der ein Bett aus der Bühnenmitte herausgefahren wird, ist durch die Videoprojektionen von Bonko Karadjov, beeindruckende Masken und die Kostüme von Jula Reindell visuell besonders eindrucksvoll umgesetzt.
Dennoch gibt es zwei Aspekte, die das Gesamtbild trüben. Die Distanz zwischen der Besuchertribüne und der Bühne erschwert es, die Mimik der Darstellerinnen und Darsteller klar zu erkennen, was besonders in einer Inszenierung, die stark auf emotionale Nuancen setzt, bedauerlich ist. Zudem ist die Preisgestaltung – insbesondere bei solch einer subventionierten Produktion – kritisch zu betrachten: Mit pauschalen, nicht gestaffelten Eintrittspreisen von 91,50 Euro am Wochenende und 76,50 Euro unter der Woche auf allen Plätzen, unabhängig von ihrer Lage, wird das Erlebnis unnötig verteuert. Denselben Preis für die letzte wie für die erste Reihe aufzurufen, ist nämlich bei insgesamt 34 Reihen vor allem eines: frech!
Text: Christoph Doerner