
Farblose Leere in Nebelschwaden: „Anastasia“ in Bielefeld
Das Musical „Anastasia“ von Stephen Flaherty (Musik), Lynn Ahrens (Songtexte) und Terrence McNally (Buch) ist ein Stoff (Übersetzung: Wolfgang Adenberg und Ruth Deny), der wie gemacht scheint für glanzvolle Ausstattung und große Emotionen. In Bielefeld versucht Regisseurin Janina Niehus jedoch, den bekannten Mythos um die angeblich überlebende russische Zarentochter nicht als Märchen, sondern als kühle Schwarzweiß-Rückblende zu erzählen. Ein reizvoller Gedanke, der allerdings an den Realitäten des Stücks scheitert.
Während in Stuttgart und Linz die Ausstattung für Schauwerte sorgte, setzt Niehus ganz bewusst auf Reduktion: Bühne und Kostüme von Sebastian Ellrich sind auf Leere angelegt, Neonröhren skizzieren die Silhouetten von St. Petersburg und Paris, eine Drehbühne mit Bänken, Treppen und Brücke suggeriert die Schauplätze. Doch wo Opernfreunde ein statisches Bühnenbild von drei Stunden akzeptieren, weil der Fokus in der Oper auf Musik und Gesang liegt, fällt es bei einem Musical wie „Anastasia“ schwer, zweieinhalb Stunden lang in dieser Kargheit zu verweilen. Denn die Show hat relativ wenige Songs, dafür lange Dialogpassagen, die in Bielefeld ermüdend wirken. Der erste Akt zieht sich spürbar. Erschwerend kommt hinzu, dass der kaum textverständliche Opernchor (Einstudierung: Hagen Enke) nur wenig Spielfreude entwickelt.
Die Kostüme tragen ebenfalls wenig zur Lebendigkeit bei. Zwar sind sie an die Mode um die Jahrhundertwende angelehnt (das Stück spielt zwischen 1906 und 1916), doch erscheinen sie ausschließlich in Weiß- und Cremetönen. Dieser Zugriff fügt sich zwar ins übergeordnete Schwarzweiß-Konzept, macht die Figuren aber optisch ununterscheidbar. Alles wirkt gleichförmig, farb- und seelenlos. Eine hübsche Idee ist, einzelne Kostüme mit Spiegelscherben zu versehen, die den zerbrochenen Reichtum des russischen Zarenreiches symbolisieren. Doch auch das misslingt, weil die Spiegel die Scheinwerferstrahlen reflektieren und das Publikum blenden.

Die Inszenierung möchte Figuren mit psychologischer Tiefe beleuchten, kratzt aber nur an der Oberfläche – und legt so die dramaturgischen Schwächen des Buches offen. Auch inszenatorische Überraschungen fehlen: die Figuren reden, die Figuren agieren, aber mehr passiert nicht. Allein einzelne Dialogzeilen, wie die bitter-zeitlose Feststellung „Russland ist wegen seiner Taten für die Ewigkeit verdammt“, schaffen eine beklemmende Aktualität.
Statt mit visueller Raffinesse ist die Bühne mit Nebel gefüllt – und das wortwörtlich. Von Anfang an wabert eine derart dichte Wolke über Bühne und Zuschauerraum, dass teilweise Gesichter kaum erkennbar sind und das Publikum regelmäßig hustet. Die ersten 50 Minuten sind dauerhaft in ein milchiges Dickicht gehüllt. Und wenn sich der Nebel dann doch mal verzogen hat, wird direkt für Nachschub gesorgt.
Ein monströser Ventilator in der Größe einer Flugzeugturbine bläst der Hauptdarstellerin während ihres Solos nicht nur den Schal vors Gesicht, sondern treibt die Nebelschwaden in den Saal, wirbelt nebenbei auch noch Kunstschnee durch die Luft, und alles wirkt irgendwann wie eine verrauchte Kneipe. Der Effekt mag gewollt sein, nervt aber gewaltig.

Auch choreografisch bleibt die Produktion unspektakulär, denn Yara Hassan setzt fast ausschließlich auf schlichte Bewegungsmuster. Einzig die Ballettszene in Paris im zweiten Akt, getanzt von Mitgliedern der Bielefelder Theaterballettschule, bezaubert für einen Moment mit zarter Leichtigkeit.
Musikalisch dagegen ist die Aufführung ein Ereignis. Unter der Leitung von William Ward Murta entfalten die Bielefelder Philharmoniker den satten, farbenreichen Klang von Flahertys Partitur mit großer Eleganz und Intensität. Murta steuert die Dynamik präzise, gibt den Solistinnen und Solisten Raum und formt zugleich einen geschlossenen, opulenten Gesamtklang, der das orchestrale Herzstück des Abends bildet. In einem Abend, der szenisch vieles schuldig bleibt, ist die musikalische Qualität ohne Zweifel das Highlight.
Im Ensemble überzeugt vor allem Hanna Kastner als Anastasia. Kurzfristig für die erkrankte Lara Hofmann eingesprungen, bringt sie ihre Erfahrung aus Linz – wo sie die Rolle bereits spielte – mit ein und meistert die Aufgabe bravourös. Mit warmem Timbre, sicherer Höhe und feinem Spiel zeichnet sie glaubhaft den Weg vom verunsicherten Waisenmädchen zur selbstbewussten Großfürstin. Ihr gegenüber wirkt Andreas Bongard als Dimitri blass. Erst im zweiten Akt, im Duett „Unter all den Menschen“, schöpft er gesanglich auf, doch sowohl als trickreicher Gauner wie auch als Liebender bleibt er schauspielerisch farblos.

Ganz anders Nikolaj Alexander Brucker, der wie Kastner auch in Linz bei „Anastasia“ auf der Bühne stand: Als Gleb überzeugt er mit Ausdrucksstärke und Präsenz, macht seine innere Zerrissenheit zwischen Pflicht und Leidenschaft spürbar und liefert damit eine der stärksten Figuren des Abends. Ebenso glänzt Betty Vermeulen als Zarenmutter mit einer darstellerisch wie stimmlich großartigen Balance zwischen Verbitterung und Herzenswärme. Ihre Szenen mit Hanna Kastner gehören zu den emotionalen Höhepunkten. Carlos Horacio Rivas als Wlad und Cornelie Isenbürger als Gräfin Lily punkten mit sympathischer Ausstrahlung.
So bleibt am Ende eine Inszenierung, die musikalisch begeistert, szenisch jedoch enttäuscht. Der Versuch, den Mythos der Anastasia durch Reduktion und Leere zu erden, legt unbeabsichtigt die dramaturgischen Schwächen des Werks offen und verliert sich in Nebelschwaden. Manchmal ist weniger mehr, aber bei „Anastasia“ in Bielefeld ist weniger einfach zu wenig. Schade.
Text: Dominik Lapp