Hannah Leser (Foto: Katharina Karsunke)
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Interview mit Hannah Leser: „Swing zu sein, ist eine kleine Berufung“

Sie ist schon als Mary Poppins im gleichnamigen Musical über die Köpfe des Publikums hinweggeflogen und hat sich in „Flashdance“ die Seele aus dem Leib getanzt: Hannah Leser. Mittlerweile besetzt sie eine Swing-Position im Ensemble von „Ku’damm 56“ in Berlin und covert außerdem die Rolle der Helga. Im Interview gibt die vielseitige Künstlerin tiefe Einblicke in ihr Leben auf dem Ku‘damm und spricht über die anspruchsvolle, oftmals unterschätzte Tätigkeit der Swings sowie die dazugehörigen Herausforderungen.

Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie reagiert haben, als die Zusage für „Ku‘damm 56“ kam?
Ja, ich weiß es noch genau! (lacht) Witzigerweise war ich selbst im Theater, nämlich im First Stage Theater in Hamburg. Fünf Minuten vor Showbeginn klingelte plötzlich mein Handy und ich wusste, wenn mich jemand anruft, könnte es entweder mein Agent oder Ku‘damm sein. Und dann war es sogar Ku‘damm persönlich, das fand ich total toll! Ich hatte auf meiner Bucket-List mehrere Sachen, die diese Produktion erfüllt und die ich mir seit Ewigkeiten wünsche: Einmal Berlin, einmal das Theater des Westens und einmal die Swing-Position. Ich war völlig aus dem Häuschen und bin als Letzte in den Saal gehuscht. Eigentlich hasse ich diese Leute! (lacht) Mein bester Freund, der mit mir dort war, flüsterte: „Was war denn?“ Und ich antworte: „Ku‘damm! Ich hab Ku‘damm bekommen!“ Er: „Oh mein Gott!“ Und dann mussten wir still sein, weil die Show begann. (lacht)

Wie erging es Ihnen, als Sie endlich, über ein Jahr verspätet, mit den Proben beginnen durften?
Als der Start von „Ku‘damm 56“ im Herbst 2020 verständlicherweise verschoben wurde, war ich einerseits supertraurig, andererseits ehrlich gesagt auch froh. Während Corona hatte ich die ganze Zeit die Sicherheit, dass ich „Ku’damm“ mache, wenn alles vorbei ist. Daran konnte ich mich festhalten. Mit dem Probenbeginn letztes Jahr sah es ja auch noch sehr gut aus, aber als die Zahlen erneut stiegen, bekam ich echt Angst. Es war so furchtbar, jeden Tag zur Arbeit zu gehen mit dem Gefühl, dass sie uns vielleicht wieder heimschicken und alles vorbei ist. Deshalb war ich tatsächlich superpessimistisch am Anfang und habe mit Sicherheit einigen Leuten ein bisschen die Stimmung verdorben. Ich konnte einfach nicht glauben, dass wir die Premiere spielen werden. Dadurch fühlt sich jetzt jede Woche, jeder Tag, an wie ein Geschenk!

Sie haben gerade erwähnt, dass Sie über die Swing-Zusage sehr glücklich waren. Haben Sie sich direkt als Swing beworben und was verlangt man von Swings in Auditions?
Man kann sich tatsächlich auf Swing-Positionen bewerben, aber das hatte ich zuerst gar nicht im Kopf. Manche Leute wollen hauptsächlich Swing machen, weil ihnen zu langweilig wird, wenn sie nur eine Rolle spielen. Andere spezialisieren sich auf Hauptrollen, und ich hatte jetzt echt das große Glück, beides zu bekommen. Ich bin Swing, darf aber auch ab und zu Helga spielen. Hinzu kommt, dass man im Vorfeld oft gar nicht einschätzen kann, wie tänzerisch die Show ist und was den Swings abverlangt wird. Ich bin schon eine sehr gute Tänzerin, würde ich jetzt mal großspurig behaupten. (lacht) Aber trotzdem gibt es Shows, wie zum Beispiel „Mary Poppins“, die tänzerisch unfassbar sind und für mich schwierig geworden wären. Die Mädels mussten dort wirklich krasse Balletttänzerinnen sein, aber gleichzeitig steppen können wie die Götter. Bei „Ku‘damm 56“ hingegen geht es viel um Paartanz – und das ist meine Stärke!

In Auditions wird aber auch geschaut, wie schnell du dir Sachen merken und umsetzen kannst. Ich habe jetzt zum Einstieg fünf Rollen, und das ist vergleichsweise einfach. Es gibt Shows, wo du zehn oder mehr Rollen machen musst. Letztendlich ergänzen sie sich aber alle und irgendwann findet man sich auf der Bühne zurecht. Das Puzzle fügt sich zusammen und es wird leichter mit jeder Rolle. Wenn ich zum Beispiel für Kollegin X einspringe, dann ist Kollegin Y neben mir, und somit weiß ich wiederum, wo ich stehe, wenn ich Kollegin Y vertrete. Aber natürlich musst du wahnsinnig fit im Kopf und flexibel sein, denn das bestimmt letztendlich unseren Alltag.

Hannah Leser und Sandra Leitner (Foto: Hannah Leser)

Wahrscheinlich jetzt zu Corona-Zeiten ganz besonders?
Ja. So mussten wir vor kurzem auch sogenannte Cut-Shows spielen. Das bedeutet, dass so viele Leute krank sind oder anderweitig ausfallen, dass wir die Lücken beim besten Willen nicht mehr stopfen können und bestimmte Parts „cutten“. Natürlich nicht die Hauptrollen. Denn wenn alle drei Besetzungen der Monika krank sind, kannst du machen was du willst, du kannst die Show nicht spielen. Und Monika lerne ich nicht über Nacht. (lacht) Wenn aber im Ensemble jemand fehlt, ist es oft möglich, diese Lücke zu vertuschen. Es wird dann geschaut, welche Rolle am meisten auffällt und wen man streichen kann. Oftmals ist das für jede Nummer ein anderer Part. Dadurch übernehmen wir Swings somit in einer einzigen Show verschiedene Teile mehrerer Tracks, was man als Split-Track bezeichnet. Das ist wahnsinnig herausfordernd für alle und du stehst als Swing mit deinem Zettel nur daneben und betest, dass alles gut geht! (lacht) Das Ganze sorgt aber zugleich auch für eine unfassbar tolle Energie. Alle sind hochkonzentriert, damit nichts schiefgeht. Und trotzdem können immer lustige, spontane Sachen passieren! In einer Cut-Show fehlte mir zum Beispiel mein Tanzpartner in der Nummer „Mutter Brause“. Er war fast immer die Position, die gecuttet wurde, was dazu führte, dass ich allein tanzen musste! Es gab ja keine Choreografie! Also durfte ich improvisieren! Und ich war auch noch in der ersten Reihe! Ich hatte die Zeit meines Lebens! (lacht)

Wie gestaltet sich der Probenprozess der Swings? Was macht hier den Unterschied zu den anderen Rollen?
Am Anfang bist du total überladen mit Informationen. Meine Kollegen und mein iPad waren hier die Rettung! Auf dem iPad kannst du zeichnen, aber auch Sachen wieder bearbeiten. Gerade bei einer Uraufführung ist ja alles noch sehr experimentell, es ändert sich ständig was! Ich weiß noch, in den ersten ein, zwei Wochen war ich die ganze Zeit einfach durchgängig müde und hungrig! Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren! Zudem hast du als Swing ganz viel Vor- und Nacharbeit, so dass du meistens ein Video machst und zu Hause noch einmal alles anpasst. Wenn das Ganze am Ende steht, sitzt man leider viel daneben, weil die Choreografen und der Regisseur es natürlich so sehen möchten, wie es letztendlich auf die Bühne kommt. Da stört es schon, wenn jemand zusätzlich in der Ecke herumtanzt, der eigentlich nicht dazu gehört. Deshalb haben wir jede freie Minute während der Bühnenproben genutzt, parallel im Spiegelsaal oder im Probenstudio für uns Dinge auszuprobieren, um sie letztendlich zu verinnerlichen. Als dann die Premiere vorbei war, gingen die Proben weiter und es standen die Put-ins für uns Cover an. Put-ins sind komplette Durchläufe mit Band, Licht und Ton, so, als wäre Publikum im Saal. Mit der Show im Anschluss abends war man dann auch echt fix und alle.

Und meistens bleibt ja auch der Sprung ins kalte Wasser für Swings trotzdem nicht aus?
Absolut! Als Swing hast du oft die Situation, dass du eher als geplant auf die Bühne musst. Als ich zum ersten Mal das Opening mit „Monika“ gemacht habe und die Lichter plötzlich angingen, war ich schockiert, es war wie ein richtiger Trip! Ich dachte nur: „Oh mein Gott! So muss es sein, wenn man auf Ecstasy ist!“ Alles war einfach so crazy! (lacht) Aber natürlich hat man ja auch seine Kollegen, die einem helfen. Und, was ganz wichtig ist: Ich tracke meistens eine Show. Das heißt, du läufst backstage eine Vorstellung mit, schreibst so viel auf, wie es nur geht und prägst dir die Abläufe ein. Das hilft enorm! Denn bedenke, meistens wird es nach einer Nummer erst mal dunkel. Und dann siehst du nichts mehr und denkst nur: „Wo muss ich jetzt hin? Renne ich jetzt jemanden um?“ Einmal hatte ich die Situation, dass ich nach „Mutter Brause“ meine Klamotten nicht gefunden habe. Das Problem ist, dass es ein sehr schneller Umzug ist und wir zudem parallel noch singen. Also bin ich nur in Unterwäsche singend herumgerannt, habe versucht zu gestikulieren, dass ich meine Klamotten nicht finde und war zudem noch auf der falschen Seite. (lacht) Wenn du nicht weißt, was du tust und wo du hin musst, verlierst du so viel Zeit, so dass du zu spät wieder auf die Bühne kommst. Deswegen ist Tracken so wichtig.

Das führt zur nächsten Frage. Sind Sie als Swing immer alle im Theater anwesend oder auf Sprung abrufbar? Wann erfahren Sie, welche Position Sie abends spielen?
Wir sind immer alle da. Einfach, falls etwas passiert. Wenn sie unsere Position schon wissen, rufen sie uns morgens direkt an. Meistens sind auch welche von uns auf der Bühne, gerade zurzeit, wo die Leute Urlaub nehmen. Dennoch kann aufgrund von Krankheit oder vor allem jetzt mit Corona kurzfristig noch mal alles geändert werden. Da kam es auch schon vor, dass jemand zehn Minuten vor Vorstellungsbeginn einspringen musste. Das ist dann wirklich Professionalität, und es ist krass, was hinter der Bühne noch alles realisiert wird, damit es letztendlich läuft. Die Zuschauer merken meistens nichts davon.

Ich bin ebenfalls immer auf Bereitschaft, auch wenn ich wie heute weiß, dass ich nicht spielen muss. Für den Fall der Fälle habe ich direkt all meine Notizen dabei. Man kann sich beim besten Willen nicht jede Einzelheit merken. Hier sind es auch weniger die Choreos, sondern eher der gesamte Ablauf. Zum Beispiel ist die Hochzeitsszene bei „Ku‘damm 56“ superkompliziert. Wir müssen 14 oder 16 Stühle ständig hin und her räumen, mindestens fünf Mal. Und du nimmst nicht immer nur deinen Stuhl, sondern manchmal auch zwei. Oder du läufst über die Bühne und erhältst den Stuhl von jemand anderem. Und sich das für fünf Rollen zu merken, ist viel. Es gab so Momente, da habe ich Panik bekommen, denn obwohl ich gerade nachgeschaut hatte, wusste ich nicht mehr, welcher mein Stuhl war und nahm den Stuhl, der übrig blieb. Aber ich hatte auch schon die Situation, dass mein Kollege und ich gleichzeitig nach einem Stuhl griffen und wir uns nur völlig entsetzt anschauten! (lacht)

Hannah Leser (Foto: Katharina Karsunke)

Wenn Sie an einem Abend wie heute nicht auf der Bühne stehen und auf Standby sind: Wie nutzen Sie Ihre Zeit?
Heute habe ich meine Steuererklärung dabei! (lacht) Ich versuche die Zeit eigentlich immer produktiv für den Job zu verwenden. Zum Beispiel mache ich ein Workout, singe oder tanze. Wir haben mehrere Übungsräume mit Klavier, die wir nutzen können, was mir auch letztens unheimlich half, als ich mich auf Auditions vorbereiten musste. Aber natürlich gehen mir manchmal, gerade am Wochenende während der Doppelshows, auch irgendwann mal die Ideen aus. Da kann ich dann auch nicht mehr so viel Produktives machen und lande bei Netflix. (lacht) Das Schöne aber ist, dass wir eine supergute Beziehung in der Cast zueinander haben. Ich glaube einfach, weil die Freude bei allen so unfassbar groß ist, dass wir jetzt wieder spielen, dass wir überhaupt wieder arbeiten dürfen. Vor allem unsere Mädelsgarderobe ist klasse. Wir verstehen uns wahnsinnig gut. Wir sind manchmal echt verrückte Hühner! (lacht) Meine Kollegen sind so talentiert und vielfältig, wir sind eine toll durchmischte Gruppe mit der kompletten Bandbreite an Erfahrungen. In unseren Ensembleszenen tanzen auch die Hauptrollen fast immer alle mit, weil wir sonst zu wenige auf der Bühne wären. Das verbindet wahnsinnig. Und diesen Teamgeist, den können wir so richtig spüren. So erzählen wir die Geschichte alle zusammen. Ein tolles Konzept.

Denken Sie, Swings wird die Bedeutung entgegengebracht wird, die sie verdienen? Oder haben Sie das Gefühl, Swings fallen manchmal ein bisschen hinten runter?
Es ist viel besser geworden. Jetzt, seit Corona, ist da auf jeden Fall eine sehr große Wertschätzung aufgekommen, was ich toll finde. Was Swings können, ist auch wirklich beeindruckend. Die Leute von außen denken oft, dass du nicht so gut bist, weil du keine feste Rolle im Ensemble hast und irgendwie nicht dazu gehörst. Genauso sehen es manche als Herabstufung, dass du nicht immer spielst. Dabei ist das einfach der logistische Hintergrund. Es ist wie ein Pyramidensystem: Oben hast du die Hauptrollen, dann die Nebenrollen und schließlich das Ensemble. Die Haupt- und Nebenrollen werden gecovert aus dem Ensemble und in diesem Fall rutschen die Swings nach. Deswegen ist klar, dass wir Extras sind. „Ersatz“ ist leider so ein fieses, negativ behaftetes Wort. Aber wir sind nun mal auf der Ersatzbank, weil wir alle abdecken müssen. Damit die Show letztendlich vollständig bleibt und stattfinden kann, gerade in diesen Zeiten. Ich finde es spannend und so schön, dass du als Swing nicht nur ein Baustein bist, sondern zudem den Überblick über das ganze Konstrukt hast. Man fühlt sich ein bisschen allwissend und ist eben nicht nur in seiner Spur unterwegs. (lacht) Ich persönlich würde es sofort wieder machen. Swing zu sein, ist eine kleine Berufung. Das macht mich sehr glücklich. So habe ich auch direkt bei meinen Auditions, auf denen ich jetzt war, angeboten, Swing zu machen. Ich hoffe sehr, dass es wieder passiert.

Zum Schluss noch einmal zu Helga: Was gefällt Ihnen an dieser Rolle am meisten und wie viel Helga steckt in Hannah?
Ich glaube, es steckt sehr viel Helga in Hannah. Ich habe selbst zwei kleine Schwestern und kenne das Gefühl, die große Schwester zu sein, die auf die Kleinen aufpasst, eine Vorbildfunktion hat und bestimmt auch ein bisschen besserwisserisch ist. Das bin ich auch, ganz sicher. (lacht) Allein deswegen kann ich mich mit Helga identifizieren. Eher weniger mit ihrer Fünfzigerjahre-Wertvorstellung. Mit dem Frauenbild habe ich natürlich mein Problem. Ich bin selbstständig und feministisch. Mir widerstrebt es im Stück immer sehr, wenn ihre Hausfrauen-Momente kommen, wenn auch die perfekte Hausfrau gut zu mir passt, weil ich in allem so ein bisschen ein Mary-Poppins-Gefühl habe. Ein kleines Revival. (lacht) Aber es ist ja auch schließlich die Geschichte, die wir erzählen. Und ich finde Helgas Geschichte unheimlich spannend, weil sie diejenige ist, die alles richtig macht und alles ausführt, was von ihr verlangt wird, und ihr Glück trotzdem nicht finden kann. Und es ist nicht ihre Schuld, nicht Wolfgangs Schuld, letztendlich ist es ist einfach nur dieses furchtbare System, das die Menschen damals in diese Konventionen gezwungen hat. Aber ich will jetzt hier nicht spoilern. (lacht)

Was waren bis jetzt Ihre persönlichen Glücksmomente bei „Ku‘damm 56“?
Natürlich der allererste Probentag, das war einfach unbeschreiblich. Ich bin den ganzen Tag wie auf Wolken gelaufen, schon als ich hier um die Ecke bog und das wunderschöne Theater sah! Ich dachte einfach nur: „Oh mein Gott, ich arbeite hier!“ Das ist tatsächlich immer noch so, jeden Tag. Natürlich auch dank der Leute, die alle mit mir hier sind. Es gab Momente, wo ich wirklich dasaß und am liebsten geheult hätte. Mir geht es so gut gerade! Auch endlich wieder auf der Bühne zu stehen, ist echt richtig cool. Ich hatte zwar das Glück, dass ich die letzten Monate viel auf einem Schiff gearbeitet habe und singen konnte. Aber ich finde es schöner, eine Geschichte zu erzählen und die Leute auf eine Reise zu schicken. Das ist für mich Theater. Ein weiterer großartiger Glücksmoment war auf jeden Fall, als ich meine erste Show gespielt habe. Nicht Helga, sondern allgemein, als Swing. Meine erste Show seit langem, ich hatte es extra ausgerechnet: Nach 638 Tagen.

Interview: Katharina Karsunke

Katharina Karsunke ist Sozial- und Theaterpädagogin, hat jahrelang Theater gespielt, aber auch Kindertheaterstücke geschrieben und inszeniert. Ihre Liebe fürs Theater und ihre Leidenschaft fürs Schreiben kombiniert sie bei kulturfeder.de als Autorin.